Chlorchemie in der Energiekrise Sind sie noch zu retten? Wird Wasserstoff zum Rettungsanker der Chlorchemie
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Kein Gas und trotzdem in der Krise: Auch die Chlorchemie ächzt unter den enormen Energiekosten. Die Produktion in Europa ist rückläufig und die Wettbewerbsfähigkeit akut bedroht, diagnostiziert Eurochlor. Gut, dass in Europa Chlor meist da produziert wird, wo er verbraucht wird. Aber wie lange noch? Und kann ausgerechnet Wasserstoff der Branche eine Perspektive bieten?

Industrieverbände mahnen, drohen und klagen – daran hat man sich gewöhnt. Sich für ihre Branchen mit zum Teil sicher auch einmal übertriebenem Pathos in die Bresche zu werfen, gehört zum Geschäft der Interessenvertreter. Und doch klingen 2022 die Klagen anders, dramatischer: „Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist in der Tat bedroht“, erklärt Wouter Bleukx, Chairman von Eurochlor von 2020 bis 2022, dem Verband der Betreiber von Chloralkali-Anlagen in Europa (einer Sektorguppe des europäischen Chemieverbands Cefic). Verlöschen die Lichter in Europas Industrieanlagen?
Das es ausgerechnet die Chlorchemie ist, die mit drastischen Worten vor dem Winter der Unzufriedenheit warnt, überrascht vielleicht: Schließlich steht mit der Chloralkali-Elektrolyse ein elektrochemisches Verfahren im Mittelpunkt, das weder fossile Energien, noch Erdgas oder Naphtha als Rohstoff nutzt und sich – emissionsneutral erzeugten Strom vorausgesetzt – auch relativ leicht defossilieren lassen würde.
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Und doch stehen die Zeichen auf Sturm: Auch wenn der wichtigste Rohstoff für die Chlorgewinnung – Salz – auf absehbare Zeit nicht knapp wird, Strom ist es schon jetzt. Und wo er nicht knapp ist, ist er teuer. Es ist daher fraglich, ob es den Firmen möglich sein wird, diese Kostensteigerungen zumindest zum Teil an die Kunden weiter zu reichen, oder ob die Preiselastizität hier an Grenzen stößt. Zum ersten Mal übersteigen die Importe in die EU die Menge der Ausfuhren – und das sowohl bezogen auf das schiere Produktvolumen als auch auf den Wert.
Entsprechend zwiegespalten blickt der scheidende Eurochlor-Vorsitzende (dessen Amtszeit exakt auf die Corona-Jahre 2020-22 fiel) auf seine letzte Eurochlor-Generalversammlung: „Die Chlorproduktion hat sich nach der Covid-19-Krise erholt und intensive Bemühungen helfen, den Zugang zu Energie zu wettbewärbsfähigen Kosten zu sichern,“ erklärt Bleukx. Zwar habe der Verband trotz Pandemie viel erreicht – was sich unter anderem daran zeige, dass es in den vergangenen zehn Jahren keinen Unfall beim Transport von Chlor mehr gab – doch sei 2022 zum ersten Mal ein endgültiges Ende der Industrie vorstellbar.
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Europa verliert in rasender Geschwindigkeit an Wettbewerbsfähigkeit und ein Ende ist nicht absehbar: Spätestens mit dem Repower-EU-Programm ist die Zeit der Rohstoff- und Energielieferungen aus Russland gezählt – auf echte Alternativen warten Verbraucher und Gewerbe aber weiterhin.
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Kein Wunder, dass die Eurochlor-Kommission bereits im April 2022 Energie als Achillesferse der Industrie definiert hat. Dementsprechend ist der Bedarf nach erneuerbarer und flexibler Energie gewaltig. Denn der Idee, doch einfach die Produktion und damit den Verbrauch zu drosseln, erteilt die Branche erwartungsgemäß eine Absage: Die Chemie sei entscheidend und integraler Bestandteil zahlreicher Wertschöpfungsketten, weiß auch die EU und versichert, die Meister der Moleküle mit als Letzte vom Netz abzuklemmen.
Wie es aber weiter gehen kann und soll, weiß naturgemäß niemand. Zum Glück für die europäischen Chlorproduzenten ist die Industrie kleinteilig und in der Fläche verteilt: Anders als etwa in den USA spielt der Transport von Chlor in größeren Volumina in Europa kaum eine Rolle. Chlor wird meist in integrierten Industriestandorten für den lokalen Verbrauch produziert.
Insgesamt 62 Werke in der EU produzierten im Jahr 2021 rund 9.645.000 Tonnen Chlor, 4,6 Prozent mehr als im Corona-Jahr 2020. Das Membranverfahren hat sich mit 84,5 Prozent Marktanteil zur dominierenden Technologie vor dem Diaphragma (11,5 Prozent der Produktion) und der quecksilberhaltige Chlor-Alkoholat-Elektrolyse (weniger als vier Prozent, nur noch bis 2027) gemausert. Dazu kommt die Gewinnung aus Salzsäure oder Chlorwasserstoff.
![Die Entstehung der Arten: Die Membran-Elektrolyse (rechts) ist die letzte Stufe der Evolution der Chlorchemie nach dem Amalgamprozess (links) und dem Diaphragma-Verfahren (Mitte). (© adrenalinapura/fotolia.com, doethion/fotolia.com, DOC RABE /fotolia.com, [M]-Sahlmüller) Die Entstehung der Arten: Die Membran-Elektrolyse (rechts) ist die letzte Stufe der Evolution der Chlorchemie nach dem Amalgamprozess (links) und dem Diaphragma-Verfahren (Mitte). (© adrenalinapura/fotolia.com, doethion/fotolia.com, DOC RABE /fotolia.com, [M]-Sahlmüller)](https://cdn1.vogel.de/fknq2U10w2rpliZV3VXjZoY0cHY=/320x180/smart/filters:format(jpg):quality(80)/images.vogel.de/vogelonline/bdb/1243900/1243998/original.jpg)
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Dabei hätte man eigentlich gerne über Nachhaltigkeit geredet, hatte sich Eurochlor doch erst 2021 ein neues Sustainability-Programm für das nächste Jahrzehnt gegeben. Dazu gehören auch neue KPIs, die nicht nur wirtschaftliche und technologische Aspekte messbar machen sollen, sondern auch etwa den Beitrag zum Netzlastausgleich oder den Carbon-Footprint der Chemie umfassen.
Ein Lichtblick für die Branche ist ausgerechnet ein Koppelprodukt, das bisher keine allzu große Rolle spielte – aber derzeit in aller Munde ist: Wasserstoff. Das leichte Gas fällt bei der Chlor-Elektrolyse quasi nebenbei an (genau wie Natronlauge). Die Chlorchemie selbst hat dafür keine Verwendung, doch für die Energiewirtschaft sowie als Rohstoff für die Chemie ist das Molekül eine begehrte Ressource. Jede ungenutzte Tonne Wasserstoff aus der Chlorproduktion schmerzt daher die Betreiber mehr und mehr.
Vom Abfall zum Wertstoff: Chlorproduktion bedeutet auch Wasserstoff
Derzeit produzieren die Eurochlor-Unternehmen rund drei Milliarden Kubikmeter Wasserstoff, von dem rund 85 Prozent genutzt werden, der Löwenanteil davon zur Dampferzeugung (35,7 Prozent) bzw. für die Produktion von Ammoniak, Anilin, Wasserstoffperoxid oder anderen chemischen Bausteinen (20,8 Prozent). Nicht verschwiegen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass rund 40.000 Tonnen Wasserstoff ungenutzt in die Atmosphäre abgeblasen werden. Zwar sind 40.000 angesichts einer europäischen Gesamtproduktion im Millionen-Tonnen-Maßstab nicht viel, aber eben doch 40.000 Tonnen eines der in Energiewende-Zeiten begehrtesten Moleküle.
Wird die Chlorchemie zur Keimzelle einer neuen Elektrolyse-Wertschöpfung? Erfahrung mit Anlagen, die deutlich größer als die typischen Container-Plants der H2-Start-ups sind, hätte die Branche schon einmal. Und nicht nur das: Da Elektrolyseanlagen relativ flexibel mit schwankenden Strommengen betrieben werden können, kann die Industrie zur Netzstabilisierung beitragen – ein Aspekt, der angesichts der fluktuierenden erneuerbaren Energien noch an Bedeutung gewinnen könnte. Die Schwierigkeiten dürften eher auf Seiten der Anwenderbranchen liegen, die sich an eine fluktuierende Versorgung gewöhnen müssten – für die durchintegrierten Chemiestandorte absolutes Neuland.
Neuer Chairman in unruhigen Zeiten: Den Broeck folgt auf Bleukx
Diese Perspektive dürfte allerdings Wouter Bleukx nicht mehr so sehr beschäftigen: Auf der Generalversammlung der europäischen Chlorchemie im September in München wurde Johan Van Den Broeck, Executive Vice President Commercial bei Vynova, einer Gruppe in der die Chlorchemie der ehemaligen Inovyn gebündelt wurde, zum neuen Chairman gewählt. In den nächsten zwei Jahren will der belgische Chemiemanager daran arbeiten, Eurochlor zu einem nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Player in der internationalen Chemieindustrie zu machen und wirbt bei den Unternehmen dafür, mit einer Stimme zu sprechen.
Energie-Prozesse seien dafür ebenso entscheidend wie das Verständnis der Politik für die Rolle des Sektors als Lieferant für nahezu sämtliche Wertschöpfungsketten, so Van Den Broeck in München. All diese Pläne wären allerdings Makulatur, wenn zum Jahreswechsel wirklich der Blackout der Branche käme. Wer sich wandeln will braucht Mut – vor allem muss er aber lang genug am Leben bleiben.
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