Smart Process Manufacturing Kongress Wie der Prozessindustrie der Digital Change gelingt
Je digitaler die Welt wird, desto wichtiger sind reale Events realer Menschen. Ende Oktober informierten sich die 180 Teilnehmer des Smart Process Manufacturing-Kongresses über den Stand der Dinge bei Augmented Reality, Data Analytics und Künstlicher Intelligenz – und diskutierten engagiert die Frage, ob die Zukunftstechnologien schon für den praktischen Einsatz tauglich sind. Kurze Antwort: Ja, viele bereits.
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Das Thema ‚Digitalisierung‘ wurde lange Zeit dominiert von der Diskussion um Fragen der geeigneten Technologien und Werkzeuge. Auf dem diesjährigen Smart Process Manufacturing-Kongress rutschte der Mensch und dessen Mindset in den Mittelpunkt, avancierte zum zentralen Faktor für den Erfolg bzw. Misserfolg der digitalen Transformation.
Das Programm startet bereits mit einem entsprechenden Keynote-Speaker: „Weshalb Big Data ohne den gesunden Menschenverstand nicht funktionieren kann“, positionierte sich Dr. Kimo Quaintance (IQ Gemini). Seine These: In Sachen Wissen / Know-how gebe es keine Hierarchien mehr. Jeder könne sich heute mit allen vernetzen. Die große Chance dabei: Man kann die Best Practices in Sachen Digitalisierung global beobachten, daraus lernen und das eigene Geschäftsmodell entsprechend adaptieren. Wer diese Chance nutze, profitiere: Solche Unternehmen sind nach seiner Beobachtung um fünf Prozentpunkte produktiver und um sechs Prozentpunkte profitabler. Ein anderer Referent brachte das später so auf den Punkt: „Klauen Sie, was Sie können!“ Nicht jeder müsse das Rad neu erfinden.
Die Herausforderungen
Im Rahmen eines Workshops (‚World Café‘) beschäftigten sich die Teilnehmer mit Ideen für die digitale Zukunft. Fünf Punkte wurden als besonders wichtig erachtet:
- Klare Prozesse sind die Basis der Digitalisierung.
- Man vermeide das Nokia-Syndrom (gemeint ist die Selbstüberschätzung großer Unternehmen).
- Die digitale Firma muss eine atmende Organisation aufweisen.
- Holt die Menschen nicht nur ab – begleitet sie auch.
- Menschen müssen für eine erfolgreiche digitale Transformation mehr Initiative entwickeln – dafür muss aber auch mehr Verantwortung delegiert werden.
Dr. Julia Angerhausen von Siemens will die Digitalisierung dynamisch angehen: ‚Accelerate the Digital Transformation‘ titelte sie ihren Beitrag. Ihre zentrale Forderung: Als Ergebnis müsse immer ein konkreter Mehrwert erkennbar sein. Um dies zu erreichen setzt Siemens neben seiner Hardware immer stärker auf Software-Lösungen (Überraschung: Siemens steht beim Angebot von Software weltweit mittlerweile auf Rang 10!). Für den Erfolg eines Lösungsanbieters wie Siemens sei das Branchen-Know-how entscheidend.
Noch dynamischer stieg Franz Braun (Bilfinger) in die Arena: ‚In sechs Monaten von Null auf 100 zum Digital Projekt‘ überschrieb er seinen Vortrag. Das Unternehmen entwickle dazu weder Technologien noch Software – nur Ideen, so Braun. Die Prozessindustrie strebt nach seiner Überzeugung zur sich selbst steuernden autonomen Produktion. Die Kombination aus Anlagenwissen und Methoden des maschinellen Lernens sei dazu der Schlüssel zum Erfolg. Doch auch Braun ist bei aller Dynamik sicher: “Der autonome Prozess wird in der Prozessindustrie noch in zehn Jahren keine Realität sein.“
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Smart Process Manufacturing Kongress
Start-ups präsentieren sich auf dem Smart Process Manufacturing Kongress
Technologien & Werkzeuge
Dr. Clemens Eckert (maexpartners) führte als Merkmal der digitalen Transformation aus, dass eine physische Arbeitsumgebung weitgehend unnötig werde („Mixed Reality statt Büro-Biotop“). Als Hausaufgabe fordert Eckert, zunächst den digitalen Reifegrad der Organisation zu erhöhen. Digitale Reife bedeutet beispielsweise die Organisation der Zusammenarbeit und die Art und Weise, wie Best Practices kommuniziert werden. Im Grunde sind das alles keine ganz neuen Fragestellungen: gute Organisation, offene Kommunikation, Wertschätzung und Respekt gegenüber allen Mitarbeitern. Zum anderen rät er dazu, Digitalisierung gezielt zu üben – dort, wo eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit besteht.
Siemens will möglichst offen sein für die Zusammenarbeit mit anderen Lösungsanbietern. Dafür hat das Unternehmen die Plattform bzw. das Applikations-Center ‚MindSphere‘ entwickelt: Das offene IoT-Betriebssystem arbeitet cloudbasiert und ermöglicht es, Systeme, Maschinen, Anlagen und Produkte zu verbinden. Mithilfe von Mindsphere lassen sich Daten analysieren und für Prozesse der Industrie 4.0 nutzen. Auch hier war zu hören: Technologien allein reichen nicht aus. Entscheidend sei die Form der Zusammenarbeit und ein Konsens darüber, was verändert werden muss. Siemens bietet dafür mittlerweile auch ein klassisches Consulting an.
Die Komplexität von Maschinen nimmt zu, das macht Services nicht einfacher. Experten-Know-how muss weltweit verfügbar sein – die Anreise des Experten ist aber teuer und zeitaufwendig. Die Lösung: Ein Techniker vor Ort wird vom Experten im Headquarter über eine interaktive Videokonferenz angeleitet; das ist auch mit Smart Glasses möglich, wie Andy Stutz von Bitnamic referierte. Motto: Das Problem zum Experten bringen und nicht den Experten zum Problem.
Das besondere Interesse von Ralf Küper-Rampp (Emerson) galt den Wireless-Sensoren (WirelessHART): Sie gewinnen an Bedeutung, weil sie wesentlich günstiger arbeiten (Batteriebetrieb), schneller installiert sind und mittlerweile eine vergleichbar hohe Sicherheit wie Kabelverbindungen bieten. Ein Praxis-Beispiel: TÜV SÜD prüft Kraftwerke in der ganzen Welt daraufhin, ob diese die festgelegte Effizienz erreichen. Es ist zeitaufwändig, für kurzfristige Messungen Kabel durch das Kraftwerk zu ziehen. Mit WirelessHART-Geräten ist die Installationszeit erheblich kürzer.
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Smart Process Manufacturing
Chemie 4.0: Chancen & Herausforderungen
Automatisierungslösungen mit dem Ziel der Datenanalyse und Optimierung dürfen die Kernprozesse der chemischen und pharmazeutischen Industrie in keinem Fall beeinflussen. Hier kommt NOA (Namur Open Architecture) ins Spiel, wie Wilfried Grote (Phoenix Contact) berichtete. Ohne Einfluss auf den eigentlichen Prozess zu nehmen, werden Daten der intelligenten Sensoren und Aktoren in einer Art „Datendiode“ ausgelesen und ausgewertet. Eine offene Steuerungsplattform, wie z.B. die PLCnext Technology, ermögliche es, beliebige Sensoren parallel zur Prozesssteuerung auszulesen.
Und was ist mit KI, der Künstlichen Intelligenz? Professor Leon Urbas reihte sich zur Beantwortung dieser Frage von der Moderatoren-Rolle in die eines Referenten ein. Ein Risiko sei, dass wir in vielen Bereichen nicht über die notwendige Menge an qualitativ guten Daten verfügen. Dennoch: Obwohl wir eine vielfach angstbesetzte Diskussion führen, setzen wir in der Praxis KI bereits vielfach ein - ohne es so zu benennen.
Die in der Diskussion formulierte Einschränkung ist aber ebenso klar wie ernüchternd: „Der Computer kann Antworten geben, er kann aber keine Fragen stellen!“ Die Hoffnung in Sachen KI sei also, dass der Anlagenfahrer bei Bedarf – bei einer brenzlig erscheinenden Situation – den Computer fragen könne, ob es diese Situation schon einmal gab und welche Lösungen erfolgreich waren.
KI biete auch die Möglichkeit, das Wissen, das in den Köpfen der älteren Generationen durch jahrelange Erfahrung erlangt wurde, für die zukünftige Generation zu sichern und verfügbar zu machen, ist Linde überzeugt. Laurens Schröder (connectavo) präsentierte dazu als Lösung eine Wissensdatenbank in Sachen Instandhaltung. Mit dieser Datenbank könne der Mitarbeiter aufgabenspezifisches Know-how abrufen.
Die Menschen
Beim Roundtable-Gespräch des ersten Tages diskutierten sechs Chief Digital Officer über die Herausforderungen des Digital Changes. Welche Erfahrungen gibt es?
Für die praktische Umsetzung einer Digitalstrategie ist natürlich die Wahrnehmung und Wertschätzung der dafür zuständigen Mitarbeiter eminent wichtig. Bei Wacker sei ‚Digitalisierung‘ so präsent wie nie zuvor ein Thema. Der Vorstand stehe voll hinter der Digitalisierungsstrategie, den dafür Verantwortlichen stünden alle Türen offen. Eine Herausforderung sei, IT-Fachleute zu finden und auch zu halten.
Auch bei Clariant wird das Thema Digitalisierung sowohl Top-down wie auch Bottom-up engagiert unterstützt – alle wollen dabei sein. Ähnlich die Situation bei Bilfinger, schon weil auch die Finanzwelt ständig den Stand der Dinge nachfrage. Man sollte sich aber auf bestimmte Schritte konzentrieren, um sich nicht zu verzetteln. Bei Linde unterstützt der Vorstand die Aktivitäten ebenfalls stark. Um das Wissen, das Linde in den vergangenen zwei Jahren erlangt hat, auch in die breite Masse zu tragen, wurde ein Personalentwicklungsprogramm aufgesetzt. Ziel ist, sowohl Methoden als auch Technologiekompetenz zu vermitteln. Mitarbeiter können sich ein Thema aussuchen und den neuen Werkzeugkasten in einer geschützten Umgebung ausprobieren und erlernen.
Minolta bestätigt, dass intensiv kommuniziert werden müsse, was Digitalisierung für das Unternehmen denn letztlich bedeute. Das sei ein durchaus beträchtlicher Aufwand. Dass die Digitalisierung eben manches am bisherigen Vorgehen infrage stellt, schmerzt den einen oder anderen Evonik-Mitarbeiter – diese müssten behutsam ‚abgeholt‘ werden. Grundsätzlich sei aber die Einstellung zur digitalen Transformation im Unternehmen positiv.
Dr. Clemens Eckert (maexpertners) ist sicher, dass technische Lösungen nicht mehr die zentrale Herausforderung sind – er sieht die Schwerpunkte vielmehr bei organisatorischen und prozessualen Veränderungen sowie im nachhaltigen Bewusstseinswandel innerhalb der Organisation. Der persönliche Change sei die Basis des digitalen Change im Unternehmen. Wichtig ist der Bottom-up-Ansatz mit maximaler Transparenz und weitgehender Selbststeuerung. Und: Bei Change Prozessen müsse die Kommunikation weniger rational denn emotional erfolgen. Nur so werden aus Betroffenen Beteiligte!
Dr. Wolfram Keller vom gleichnamigen Consulting-Unternehmen präsentierte eine Studie zum Thema „Berufe 4.0 – Wie Chemiker und Ingenieure in der digitalen Chemie arbeiten“. Ergebnis: Die Nutzung digitaler Anwendungen wird die Berufe von Chemikern und Ingenieuren deutlich beeinflussen – als Stichworte seien neu aufkommende Berufe wie IT-lastige reine Data Scientists, Chemie-Informatiker und betriebswirtschaftlich orientierte Wertschöpfungsketten-Manager genannt.
Yes we can: Realisierte Projekte
Ein konkretes Projekt, das Siemens mit Merck realisiert hat, wurde als ‚Next Generation Production @ Merck‘ vorgestellt. Hintergrund dieses Projekts war die Erkenntnis, dass die steigende Volatilität der Märkte und der wachsende Bedarf an kundenspezifischer Produktion zu immer kürzeren Produktlebens- und Innovationszyklen führen. Das ist auch bei Merck so. Deshalb sind eine hohe Produktflexibilität und hohe Produktionskapazitäten wichtige Zielsetzungen für das Anlagen-Design. Um auf die steigende Produkt- und Kapazitäts-Flexibilität zu reagieren, gilt der modulare Anlagenbau als Schlüsseltechnologie. Basis sind dafür kleine flexible Module, die dann auch smart sein müssen (Automatisierung!). Die Lösung bestand unter anderem im Aufbau einer Modulbibliothek, der Erstellung von Modul-unabhängigen Rezepten auf Basis von Service-Typen und die Überführung in ein konkretes Produktionsrezept.
Dr. Anne Bendzulla (thyssenkrupp Industrial Solutions) stellte ein Projekt vor, bei dem mit Hilfe von Data Analytics der Betrieb einer Chlor-Alkali-Elektrolyse verbessert werden konnte und im Zusammenspiel mit vorausschauender Wartung sich die Ausfallzeiten verringerten. „Menschliche Intelligenz gepaart mit künstlicher Intelligenz ermöglichen erhebliche Einsparungen, die heute in konkreten Anwendungen bereits realisiert werden“, so Bendzulla.
Die Herausforderung für einen Anlagenbetreiber ist es, zu jedem Zeitpunkt über eine fehlerfreie As-built Dokumentation verfügen zu können. Ineos setzt in seinem Petrochemie-Standort Köln dazu in der EMSR-Planung auf Engineering Base von Aucotec, wie Martin Imbusch berichtete. Mit der Execution Management-Funktionalität werden bei Ineos die täglichen Maintenance-Aufgaben und kleinere Änderungen zeitnah, automatisiert und regelbasiert in das As-built-Projekt übernommen. Mit der gleichen Funktionalität können auch größere und zeitintensivere Umbauplanungen eingebunden werden.
Fazit: Digitalisierung ist kein Spielplatz, sie wird nicht um ihrer selbst willen betrieben. Am Ende muss der Kunde glücklicher sein – doch spielen letztlich natürlich die finanziellen Aspekte die alles entscheidende Rolle. Einer Gefahr gilt es unbedingt zu begegnen: Die in den Unternehmen der Prozessindustrie so gern geforderte ‚Amortisation‘ innerhalb weniger Jahre darf bei der Reise in die Digitalisierung nicht zum Bremsklotz werden. Denn es geht nicht um den Rückfluss von investiertem Geld. Es geht um die Zukunft des Unternehmens.
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