Personalisierte Medizin Was ist ein Menschenleben wert? Eine ökonomische Betrachtung personalisierter Medizin

Ein Gastbeitrag von Morten Schlothauer, Geschäftsführer und Dr. Friedrich Haefele, Senior Consultant bei Tetragon Consulting

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Bis zur Pandemie hatten die meisten Menschen noch nie von mRNA-Impfstoffen gehört. Heute wird allgemein erwartet, dass sie der Schlüssel zur Heilung lebensbedrohlicher Krankheiten wie Krebs sein könnten – leider zu einem möglicherweise unerschwinglichen Preis. Was das bedeutet, diskutieren Morten Schlothauer und Dr. Friedrich Haefele von Tetragon Consulting in ihrem Gastbeitrag.

Ob wir irgendwann alle unsere persönliche Medizin bekommen?
Ob wir irgendwann alle unsere persönliche Medizin bekommen?
(Bild: vrx123 - stock.adobe.com)

Biontech-Pfizers und Modernas Covid-19-Impfstoffe haben Millionen Menschenleben gerettet und eindrucksvoll bewiesen, dass mRNA-Vakzine funktionieren, gut verträglich sind und sich schnell und flexibel herstellen lassen. Und das Potenzial dieser neuen Technologie ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Denn ihre eigentliche Stärke liegt darin, dass man den Impfstoff, also die Sequenz der mRNA, ganz individuell anpassen kann.

Das macht sie auch zur Therapiehoffnung für unterschiedliche Krebsformen. Krebszellen z.B. sind bei jedem Patienten unterschiedlich. Die mRNA-Technologie soll es ermöglichen, jeden Impfstoff auf die Merkmale des speziellen Tumors zuzuschneiden. Dafür werden dem Patienten Tumorzellen entnommen und mit Hilfe einer Gensequenzierung untersucht. Sind die Krebszellen entschlüsselt, wird ein patientenspezifischer Impfstoff hergestellt. Der hat die Aufgabe, das Immunsystem in die Lage zu versetzen, den Tumor zu erkennen und zu bekämpfen. Dabei wird die „fremde“ Struktur, die das Immunsystem erkennen soll, nicht mehr im Labor, sondern vom Körper des Patienten selbst hergestellt. Die geimpfte mRNA ist hierfür der Bauplan.

Die Potenziale, die in mRNA-Therapien stecken gehen weit über die Krebsbehandlung hinaus

Die Strategie, dem Körper mithilfe der mRNA zu sagen, was er tun soll, birgt noch weit größeres Potenzial. Aus wissenschaftlicher Sicht ist davon auszugehen, dass mRNA-Therapien mittel- und langfristig nicht nur bei den meisten Krebsarten, sondern auch bei HIV, Diabetes und vielen anderen lebensbedrohlichen Krankheiten eingesetzt werden können. Dr. Ugur Sahin, CEO von Biontech, sagt voraus, dass in 15 Jahren jedes dritte neu zugelassene Medikament auf mRNA-Technologie basieren wird.

Wir haben im Rahmen einer eigenen Studie die zu erwartende Entwicklung der personalisierten Medizin für mRNA- und pDNA-Arzneimittel in den nächsten Jahren abgeschätzt. Basierend auf den aktuellen klinischen Studien2), den statistischen Wahrscheinlichkeiten für den Übergang von einer klinischen Phase zur nächsten und schließlich zur Zulassung3), dem Eintritt neuer Medikamente in die Phase 14) und der durchschnittlichen Dauer der klinischen Phasen3) halten wir im Bereich der Onkologie in den Jahren 025 bis 2027 zehn Neuzulassungen personalisierter mRNA- und pDNA-Arzneimittel für erreichbar:

  • im Jahr 2025 eine Zulassung
  • im Jahr 2016 drei Zulassungen
  • im Jahr 2027 sechs Zulassungen

Aktuell befinden sich Arzneimittel für 25 verschiedene Krebsarten in klinischen Tests2), jede dieser Indikationen betrifft jährlich weltweit durchschnittlich 640.000 neuen Patienten5). Gehen wir davon aus, dass die bis zum Jahr 2027 neuzugelassenen 10 Arzneimittel fünf verschiedene Indikationen betreffen werden, so ergeben sich rechnerisch in Summe 3.200.000 zu erwartende Patientenpopulationen:

  • im Jahr 320.000 erwartete neue Patienten
  • im Jahr 2025 960.000 erwartete neue Patienten
  • und im Jahr 2027 1.920.000 erwartete erwartete neue Patienten.

Es könnte also Millionen von Patienten geholfen werden. Doch eine Hürde gilt es noch zu überwinden: die erheblichen Kosten personalisierter Therapien.

Zwar ist noch kein personalisiertes mRNA-Arzneimittel zugelassen, doch sind die Kosten anderer personalisierter Behandlungen bekannt. In den Jahren 2019 und 2020 wurden in Deutschland innerhalb von 12 Monaten etwa 300 Patienten mit neuen CAR-T-Zelltherapien behandelt - zu Kosten von rund 100 Millionen Euro.6) Eine Studie aus November 2020 extrapoliert die finanzielle Gesamtbelastung der Gesundheitssysteme von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und der Niederlande für CAR-T-Zelltherapien bis 2029 auf 32,9 Milliarden Euro - für die Behandlung von knapp über 100.000 Patienten.7) Es erscheint plausibel, dass die zukünftigen mRNA-Therapien in etwa so viel kosten werden, wie heutige CAR-T-Zelltherapien, zumal vor jeder Behandlung auch eine personenspezifische Diagnose erfolgen muss.

Wieviel darf eine Therapie kosten ?

Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) bewertet neue Medikamente für den National Health Service (NHS) mit 20.000 bis 30.000 Euro pro sog. qualitätsbereinigtem Lebensjahr (QALY). Die neuen personalisierten mRNA-Medikamente müssten also das Leben jedes Patienten um neun bis 14 Jahre verlängern, um zum angenommenen Preis erstattungsfähig zu sein.

Ob dies erreichbar ist, kann bezweifelt werden. Die mittlere Überlebensrate der einer Studie des Unternehmens Kite zur Wirkung des zugelassenen CAR-T-Arzneimittels Yescarta bei Patienten mit refraktärem großzelligem B-Zell-Lymphom betrug nur knapp über zwei Jahre.8) Die Yescarta-Therapie kostet 327.000 Euro. Welches Gesundheitssystem kann – und will – sich solche Therapien leisten?

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Gelingt es nicht, die Kosten zu senken, werden die neuen Therapien nur für wenige zugänglich sein

Bereits die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass ausreichende Gesundheitsfürsorge nur einem privilegierten Teil der Menschheit zur Verfügung steht. Wenn es nicht gelingt, die Kosten ganz erheblich zu senken, wird personalisierte Medizin bestenfalls in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen über 40.000 US-Dollar eingesetzt werden können – dies sind Länder in Nordamerika, West- und Zentraleuropa, Australien, Neuseeland und die wohlhabenden Staaten Südostasiens und des Mittleren Ostens.

Die Zahl behandelter Patienten reduziert sich damit auf 450.000. Über die Jahre 2025, 2026 und 2027 verteilt ergibt sich damit folgendes Bild:

  • im Jahr2025 erreichbare neue Patienten: 45.000
  • im Jahr 2026 erreichbare neue Patienten: 135.000
  • im Jahr 2027 erreichbare neue Patienten: 270.000

In diesem Szenario werden weniger als 15 Prozent aller weltweit Erkrankten behandelt und die neue personalisierte Medizin wird dem überwiegenden Teil der Menschheit in China, Indien, Afrika und Lateinamerika nicht zur Verfügung stehen.

Aber auch wohlhabende Länder werden schnell an die Grenze dessen gelangen, was ihre Gesundheitssysteme zu leisten vermögen. Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Pro Jahr erkranken derzeit etwa 520.000 Menschen an Krebs10). Wenn in Zukunft nur einem Viertel aller Patienten ein personalisiertes mRNA-Arzneimittel zur Verfügung steht, führt das bei heutigen Kosten zu jährlichen Ausgaben von 43 Milliarden Euro. Dies entspricht etwa dem Betrag, den die gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 2020 für alle Arzneimittel ausgegeben haben.

Bedeuten diese Zahlen das Ende für die neuen Therapieansätze oder gibt es noch Handlungsoptionen?

Wir denken, folgende Schritte sind nötig, um die erwarteten Kosten durch Economies of Scale- Effekte und eine Verkürzung der Time-to-market zu senken:

  • Etablierung eines Plattformansatzes für mRNA- und pDNA-Therapien;
  • Kombination von patientenspezifischen Therapieansätzen mit solchen, die sich für größere Patientengruppen mit identischen Tumormarkern eignen;
  • Optimierte Supply-Chain-Strategien auf Basis genauer Make-or-buy-Analysen;
  • Einbindung spezialisierter CDMOs als Kompetenzzentren für Prozessentwicklung und Fertigung;
  • • Standardisierung der Produktionstechnologie für die Herstellung der APIs und von Fill/Finish.

Darüber hinaus sollten wir uns sicher auch fragen, ob alle Behandlungen sinnvoll sind, die das Leben um wenige Monate verlängern, oft nur um den Preis erheblicher Nebenwirkungen.

M. Schlothauer, Dr. F. Haefele, 19.05.2021

Quellen

1) Sahin, Türeci, 2022, Die Zukunft der mRNA-Therapien nach Covid-19, The World Ahead 2022 Magazine

2) ClinicalTrials.gov; US National Library of Medicine

3) Thomas, et all, Clinical Development Success Rates and Contributing Factors 2011–2020, Biotechnology Innovation Organization, Informa Pharma Intelligence, QLS

4) Eigene Berechnung

5) World Cancer Research Fund, American Institute for Cancer Research

6) Henn 2020, CAR-T-Zellen in Deutschland - ein Zwischenbericht

7) Heine et al, 2022, Health Economic Aspects of Chimeric Antigen Receptor T-cell Therapies, European Hematology Association

8) Pressemitteilung Gilead, Dezember 2019, Kite Announces Long-term Data From ZUMA-1

9) Wikipedia

10) Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums

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