Nachhaltige Chemie Masterplan für die Energiewende – Warum die Chemie zum Schlüssel wird
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Der große Umbau der Energiesysteme hat begonnen: Die Kopernikusprojekte sollen einen Paradigmenwechsel einläuten und bringen über 200 Firmen, Institute und Universitäten zusammen. Wie das Mammutprojekt die Chemiebranche beflügelt und was technologisch bereits alles geht ...

Das Jahr 2050 ist das magische Datum für die Chemieindustrie. Dann nämlich, so verkündete im letzten Jahr der VCI, will die Branche Treibhausgas neutral produzieren. Bis dahin muss noch eine Menge passieren, denn 30 Jahre sind zwar auf den ersten Blick eine lange Zeit. Die Spanne relativiert sich aber, betrachtet man den Aufwand, den Verfahrenstechniker betreiben müssen, um vom Labor in den Produktionsmaßstab zu kommen.
Beispiel: CO2-basierte Polyether. „Von den ersten Forschungsschritten im Labor bis zur Anlage verging ein Zeitraum von zehn Jahren“, präzisiert Covestro-CTO Dr. Klaus Schäfer. Jetzt steht seit 2015 im Chempark eine kommerzielle Pilotanlage, die 5000 Tonnen des CO2-basierten Polyurethanschaums produziert und damit nur einen Bruchteil dessen ausspuckt, was eine Großanlage mit einer Kapazität von 100.000 Tonnen leisten würde.
Für Covestro ist die Anlage ein Etappensieg, denn die Leverkusener haben damit bewiesen, dass CO2 aus den Schloten der Stahlindustrie zum Rohstoff taugt.
Chemie engagiert sich bei Kopernikus
Covestro ist eines von über 100 Industrieunternehmen, die sich in den Kopernikusprojekten der Bundesforschungsministeriums engagieren, aber beileibe nicht das einzige: Evonik, Wacker, Clariant sind vertreten, aber auch Beiersdorf, Heräeus und Linde Engineering. Die Chemie spielt in dem BMBF-Großprojekt eine wichtige Rolle und das aus guten Grund. 70 Prozent aller Treibhausgasemissionen der Chemie entfallen auf die Produktion einer Handvoll Basischemikalien, mithin also ein gewaltiger Hebel.
Nachdem die Branche anfangs nicht unbedingt an vorderster Front der Klimaschützer marschierte, hat sich das inzwischen gewandelt. Es gibt eine Roadmap von VCI und Dechema, die definiert wie Chlor, Ammoniak, Harnstoff, Methanol und Co. in 30 Jahren produziert werden könnten. Technisch geht also bereits einiges, wie z.B. die Synthese von Ammoniak aus Elektrolyse-Wasserstoff. Wermutstropfen dabei: Die neuen Prozesse werden alle sehr viel mehr Strom verbrauchen als die zurzeit eingesetzten Verfahren. Strom, der aber ab 2050 nicht mehr auf Basis fossiler Brennstoffe erzeugt wird, sondern grün ist und damit aus Wind, Sonne und Wasserkraft stammt.
![Superheld wider Willen: Bei der De-Fossilierung spielen Moleküle und Verfahrensentwicklung die Hauptrolle. (©Africa Studio; closeupimages - stock.adobe.com [M] Frank) Superheld wider Willen: Bei der De-Fossilierung spielen Moleküle und Verfahrensentwicklung die Hauptrolle. (©Africa Studio; closeupimages - stock.adobe.com [M] Frank)](https://cdn1.vogel.de/eX9H4I8oNYU-2DFJbZVlNAfMPNc=/320x180/smart/filters:format(jpg):quality(80)/images.vogel.de/vogelonline/bdb/1765900/1765990/original.jpg)
Stoffliche Nutzung von CO2 als Rohstoff
Noch kurz die Welt retten? Warum die Defossilierung von der Chemie abhängt
Doch noch fehlen tragfähige Lösungen, wie regenerative Energien in andere Energieträger umgewandelt werden und wie die unterschiedlichen Industrien Sektor-übergreifend zusammenarbeiten können. Klar ist aber, eine Branche allein wird den Kraftakt nicht stemmen können. Die Energiewende gelingt nur, wenn alle energieintensiven Industrien, Politik, Verbände und Gesellschaft an einem Strang ziehen.
Energiesysteme müssen umgebaut werden
Mit viel Vorschusslorbeeren versehen, fiel deshalb vor vier Jahren der Startschuss für ein Projekt, das den Umbau des Energiesystems vorantreiben und alle Beteiligten vernetzten soll. „Wir werden zeigen, dass eine sichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung machbar ist, ohne auf Wohlstand und Arbeitsplätze zu verzichten“, erklärte die damalige Bundesforschungsministerin Johanna Wanka beim Start der Kopernikus-Projekte im April 2016.
Auf zehn Jahre sind die Projekte angelegt: Bis 2025 wolle man neue Energiekonzepte auf den Weg bringen, die in Phase 3 im großtechnischen Maßstab angewendet werden können – und auch gesellschaftlich mitgetragen würden. Die Konzeptphase 1 ist seit letztem Jahr abgeschlossen. Momentan geht es in Phase 2 um die Validierung und Vorbereitung der Praxis-Phase.
Für Dr. Stefan Niessen, Sprecher des Teilprojekts Ensure, hat der Name des großen Astronomen Symbolcharakter. Der Umbau der Energiesysteme gleiche einem Paradigmenwechsel, ebenso wie die wissenschaftlichen Umwälzungen, die das von Nikolaus Kopernikus 1543 ausgerufene heliozentrische Weltbild, ausgelöst habe.
Die vier Hauptprojekte Power-to-X, Ariadne, Ensure und Synergie bohren die ganz dicken Bretter, die Mehrzahl der Vorhaben sind noch im Forschungsstadium und am Übergang zur kommerziellen Nutzung angesiedelt. Eine Reihe von Satelliten-Projekten sind an Hauptprojekte angedockt und laufen über kürzere Zeiträume.
Sind die Klimaziele noch erreichbar?
Jetzt im dritten Jahr sind die Projekte notwendiger denn je. Vielen geht der Umbau nicht schnell genug. Der anfangs vor allem durch Photovoltaikanlagen getriebene Ausbau der regenerativen Energien stottert: Zu wenig neue Wind-Kraftanlagen seien in Sicht, um die Klimaziele 2030 noch zu erreichen, kritisieren die Autoren in einer Analyse des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität zu Köln.
Auch die Experten des Ökoinstituts schlagen in einer vom Bundesumweltministerium beauftragten Studie Alarm. Ein „Weiter so“ bedeute: Im Jahr 2030 würden statt der angestrebten 543 noch 614 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben. Damit verpasse man das CO2-Minderungsziel von 55 Prozent um vier Prozent, berechnen die Experten.
Lockdown senkt Stromverbrauch erheblich
Eine Atempause fürs Klima bringt nun ausgerechnet die Covid-19-Pandemie. Im bundesweiten Durchschnitt habe der Lockdown im Frühjahr den Stromverbrauch in Deutschland um rund zehn Prozent gesenkt, erklärt Dr. Joachim Kabs, Vorstand Netztechnik bei der Hansewerk-Tochter Schleswig-Holstein Netz, auf einer Kopernikus-Pressekonferenz.
Gleichzeitig sei der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix auf etwa die Hälfte gestiegen – ein Szenario also, mit dem die Verantwortlichen der Energiewende erst in einigen Jahren gerechnet haben. Unerwartet sorgt die Pandemie also nicht nur für eine Klimaentlastung. sondern wirkt auch als Stresstest für die Energieversorgung und die Funktionsfähigkeit der Stromnetze, aus dem Betreiber eine Menge lernen können.
Stabilitätstest für die Stromnetze
Die gute Nachricht: Die Netze haben gehalten. Es habe keine Stromausfälle oder Produktionsunterbrechungen gegeben, erklärt Rainer Häring, Director Energy Westeuropa des finnischen Spezialpapierherstellers UPM. Die Finnen betreiben in Deutschland sechs Papierfabriken und eine Bioraffinerie Pilotanlage in Leuna. Mit einer Leistungsaufnahme von 100 Megawatt pro Jahr gehören die UPM-Standorte zu den energieintensiven, die den Stromverbrauch der Industrie in die Höhe treiben.
Gleichzeitig „sehen wir uns als Werkzeug der Energiewende“, betont Häring. „Wir können ganze Standorte aus der Leistung herausnehmen und damit netzstabilisierend wirken.“ Demand Side Management heißt dieser Ansatz, der im Verbundprojekt Synergie 87 Partner beschäftigt und das für Projektsprecher Dr. Alexander Sauer fast ein Fulltime-Job ist.
Die Räder, die hier gedreht werden, sind gewaltig. Es geht um einen Paradigmenwechsel für die Industrie: Produktionsprozesse sollen sich dem Energieangebot anpassen und so flexibler auf schwankende Strommengen reagieren. Auch Covestro ist bei Synergie mit an Bord und erforscht, welche Flexibilitätspotenziale in der schaltbaren Chloralkali-Elektrolyse stecken.
Was soll´s denn sein? Gas, Sprit oder Chemikalien
Besonders viel Musik für die Chemiebranche ist in dem Projekt P2X, wobei das X wahlweise für Liquid, Gas oder Chemical steht. „Power-to-X-Technologien schaffen nachhaltige Alternativen für die Nutzung von Erdöl als Energieträger und Chemierohstoff“, erklärt Prof. Dr. Walter Leitner, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion und Sprecher des P2X-Projektes.
Im Kern geht es um Produktionsmethoden zur grünen Wasserstoffherstellung, der dann u.a. in der Chemieproduktion eingesetzt wird sowie um die Synthesegasherstellung, das für die Produktion synthetischer Kraftstoffe und Spezialchemikalien genutzt werden soll.
Erste Erfolge gibt es bereits. Seit September diesen Jahres läuft in Marl eine Versuchsanlage betrieben von Evonik Creavis und Siemens Energy im nördlichen Ruhrgebiet, Stichwort Rhetikus-Projekt: Hier verstoffwechseln Mikroorganismen Synthesegas zu einer Feinchemikalie. Noch sind die erzeugten Mengen klein, das soll sich aber ändern.
Ob aus der Versuchsanlage, eine Pilot- und später vielleicht auch einmal eine ausgewachsene Produktionsanlage wird? Der Countdown läuft – in 30 Jahren will die Chemie klimaneutral produzieren. Und jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt.
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