Prozessautomatisierung „Autonome Wertschöpfungsketten in der Prozessindustrie sind machbar“
9 Fragen, 9 Antworten. Dr. Wilhelm Otten, der bei Evonik die Business Line Process Technology & Engineering leitet und dabei für Technologieentwicklung und Engineering des Konzerns weltweit verantwortlich ist, im Exklusiv-Interview mit PROCESS. Der NAMUR-Vorsitzende sieht in der digitalen Transformation große Chancen bis hin zu einer selbststeuernden Supply Chain. Doch dafür muss sich auch die NAMUR erst einmal weiteren Schnittstellenthemen und -zielgruppen öffnen.
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Herr Dr. Otten, auf Namur-Hauptsitzungen aber auch auf User-Meetings von großen Automatisierungskonzernen und anderen Events wird seit Jahren – nicht erst seit Industrie 4.0 – die vorbeugende Wartung und Instandhaltung propagiert. Wir hören aber, dass in vielen Anlagen genau das Gegenteil passiert. Anlagen werden „bis zum Anschlag“ gefahren und das Wissen der Mitarbeiter ist in vielen Fällen nicht auf dem notwendigen Stand. Zudem fehlen Budgets für vorbeugende Wartung und Instandhaltung. Was läuft da gerade falsch oder sehen Sie diese Probleme nicht?
Dr. Wilhelm Otten: Ich sehe, dass es große Unterschiede in der Asset-Strategie zwischen den Firmen und auch den Regionen gibt. Das äußert sich insbesondere darin, welcher Wert auf die Anlagenbetreuung gelegt wird und welche Qualifikation die Betriebstechnik hat, die im Endeffekt die Verfügbarkeit der Anlagen bestimmt. Ich sehe – vermutlich u.a. auch aus einem gewissen Nachholbedarf heraus – einen gewissen Hype bei Predictive Maintenance insbesondere in den USA. Auch wenn ich nur für die Evonik sprechen kann, bin ich sicher, dass zumindest die größeren Chemieunternehmen in Deutschland auf vergleichbarem Stand sind. Vorbeugende Instandhaltung, insbesondere Zustandsüberwachung der Anlagen in Form von Schwingungsüberwachung, Ölanalysen etc. ist Stand der Technik seit den 80-er Jahren, allerdings nicht flächendeckend, sondern nur für große und kritische Anlagen. Die ungeplanten Ausfälle, die durch prädiktive Überwachung vermieden werden könnten, liegen unter ein Prozent. Viele Ausfälle sind durch Interaktion mit dem Prozess, z.B. Korrosion durch ungewollte Nebenprodukte oder Verstopfungen erzeugt. In der integrierten prädiktiven Prozess- und Asset-Überwachung sehe ich daher noch Potenziale.
Bei Evonik gelten Sie auch als ein Vordenker und Antreiber für Industrie 4.0. Sind autonome Wertschöpfungsketten in der Chemie- und Prozessindustrie für Sie eine Vision oder Fiktion?
Dr. Otten: Betrachtet man das Reifegradmodell der Digitalisierung, so steht am Ende das selbststeuernde, autonome System oder Prozess. Von daher bezeichne ich ja auch gern Digitalisierung bzw. Industrie 4.0 als Automatisierung der Geschäftsprozesse. Eine in großen Teilen selbststeuernde Supply Chain halte ich für mittelfristig machbar. Wir arbeiten unter dem Stichwort Remote Operations an der autonomen Produktion, die der Kern der Supply Chain ist. Am Ende ist es eine Frage von Aufwand und Nutzen, inwieweit wir die Supply Chain automatisieren.
Wenn die Supply Chain ein zentrales Einsatzgebiet für Industrie 4.0 ist, sind diese Funktionsträger denn ausreichend in der Namur vertreten oder muss sich da etwas ändern? Wenn ja, was?
Dr. Otten: Das ist eine gute Frage. Klassisch hat die Namur ihren Schwerpunkt in der Produktion. Um die Aktivitäten auf die Supply Chain zu erweitern, haben wir vor zwei Jahren den Arbeitskreis Logistik gegründet. Müssen wir die Supply Chain stärker in der Namur etablieren, sowohl bei den Entscheidern als auch in den Arbeitskreisen? Eindeutige Antwort von meiner Seite: Ja, das ist ein strategischer Schwerpunkt der nächsten Jahre und das weitere Vorgehen haben wir in der letzten Vorstandssitzung abgestimmt.
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Wenn Big-Data zum neuen Gold der Industrie werden soll, wie viele Daten-Ingenieure hat Evonik in den letzten zwölf Monaten eigentlich eingestellt?
Dr. Otten: Die Evonik hat seit 30 Jahren eine Gruppe von acht bis zwölf Datenanalysten in der Verfahrensentwicklung. Die erste dokumentierte Anwendung in der Evonik ist die Analyse des Kunden-Kauf-Verhaltens für ein spezifisches Produktsegment. Wir setzen Datenanalyse standardmäßig zur Prozessoptimierung ein, sowohl kommerzielle Software als auch Eigenentwicklungen für spezifische Anwendungen. Die kommerziell verfügbaren oder als Open Source verfügbaren Werkzeuge sind besser geworden. Für diese Gruppe rekrutieren wir jedes Jahr zwei bis drei Mitarbeiter. Zusätzlich wurden noch einige Mitarbeiter im Bereich unseres Big-Data-Lab in der IT eingestellt. Die Nutzung von Datenanalysen ist aber noch nicht durchgängig in der Branche. Den größeren Hebel sehe ich allerdings in der Zukunft in der Nutzung von künstlicher Intelligenz in der Automatisierung von z.B. administrativen Prozessen.
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