Lieferketten der Pharmabranche Corona-Pandemie macht Abhängigkeiten der Pharmaindustrie sichtbar
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Die europäische Pharmaindustrie hat jahrelang Produktion nach Asien und auf andere Kontinente ausgelagert. Nach dem Ausbruch des neuartigen Coronavirus wird die Abhängigkeit der Branche von diesen Ländern extrem sichtbar. Doch wie ist die Situation in den Lieferketten der Pharmabranche aktuell?

Im Zusammenhang mit der Corona-Krise wird aktuell viel über die Konsequenzen für verschiedenste Lieferketten geschrieben. Gerade die langfristige Verfügbarkeit von Lebensmitteln, Hygiene- und Arzneimitteln wird von den Verbrauchern stark angezweifelt, was sich an den vielen Hamsterkäufen zeigt. Die das Angebot übersteigende Nachfrage nach Mundschutzmasken, Schutzkleidung und Handdesinfektionsmitteln wurde rasch sichtbar und besorgte die Bevölkerung. Aktuell ist zudem in vielen deutschen Apotheken der Wirkstoff Paracetamol vergriffen. Bereits zu Beginn der Krise wurde so spürbar, wie unverzichtbar einige Länder Asiens für viele Branchen geworden sind.
Es mangelt an alternativen Bezugsquellen
In der Pharmaindustrie ist China neben Indien oft die einzige Bezugsquelle, besonders bei frei verkäuflichen, sogenannten Over-the-Counter-Produkten und im Generika-Umfeld. 90 % aller Wirkstoffe für Generika werden aktuell in China hergestellt. Bei den noch geschützten Medikamenten kommen Schätzungen nach zu urteilen etwa 50 % der Wirkstoffe aus China. Insgesamt spricht der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie derzeit von Wirkstoffen für 136 verschiedene Arzneimittel, darunter auch Antibiotika, die aus China bezogen werden. Auch wenn Indien sich als alternative Quelle für generische oder rezeptfreie Medikamente etablieren könnte, hängt die Branche noch immer stark von chinesischen Lieferungen, Wirkstoffen und wichtigen Ausgangsmaterialien ab.
Gleichwohl werden die Auswirkungen der Corona-Krise nicht überall genauso schnell sichtbar wie beim Mundschutz oder Paracetamol. So haben führende Pharmaunternehmen Erklärungen abgegeben, dass sie in Bezug auf Lagerbestände und alternative Bezugsquellen gut abgesichert sind. Angesichts der oben genannten Tatsachen und der Abhängigkeit von China, macht sich dennoch eine gewisse Skepsis breit. Zwar hält die gesamte Pharmaindustrie Lagerpuffer vor – der mittlere Lagerbestand beträgt etwa 180 Tage und momentan scheint sich auch die Lage vor Ort wieder etwas zu entspannen – aber angesichts der langen Vorlaufzeiten im Zusammenhang mit der Arzneimittelherstellung, dürfte es einige Zeit dauern, bis die Auswirkungen die Lieferkette tatsächlich durchlaufen haben. Der Wechsel von Bezugsquellen in der Pharmaindustrie ist jedoch angesichts der starken Regulierung und der strengen Compliance-Anforderungen der Aufsichtsbehörden alles andere als einfach. Etwaige Maßnahmen müssen also frühzeitig in Betracht gezogen und auf den Weg gebracht werden.
Mangel bei lebenswichtigen Medikamenten vermeiden
Derzeit ist die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten nicht sichtbar gefährdet. Dennoch weiß keiner wie lange die weltweite Ausnahmesituation noch andauern wird und wie sich die Lage in den einzelnen Ländern zukünftig entwickelt. In der Vergangenheit haben Experten beobachtet, dass die Pharmaindustrie im Hinblick auf das Lieferketten-Management hinter anderen Branchen wie der Lebensmittelbranche hinterher hinkt, deshalb besteht dringender Optimierungsbedarf. Aber nicht nur Pharma-Hersteller müssen einen analytischen Blick auf ihre Lieferketten werfen und alles tun, um die Versorgung sicherzustellen. Spätestens jetzt geht es darum, das Risiko eventueller Lieferengpässe zu verstehen und zu quantifizieren, alternative Lieferanten zu finden und zu ermitteln, mit welchen alternativen Bezugsquellen bei der Gewährleistung der Kontinuität zusammengearbeitet werden könnte.
Angesichts der Komplexität ist es für die meisten Unternehmen durchaus nicht trivial, die oben genannten Fragen zu beantworten. Meist verlassen sich Unternehmen hier auf Daten aus den ERP- und Planungssystemen. Diese sind jedoch nicht dafür ausgestattet, belastbare Aussagen für die Zukunft zu treffen. Dafür bedarf es vielmehr einer Erweiterung der Algorithmen unter Einbezug von Künstlicher Intelligenz und Simulationen. Darüber hinaus ist die Umstellung der Bezugsquellen in der Pharmaindustrie sowohl hinsichtlich der Kosten als auch der Zeit besonders teuer.
Unternehmen aller Branchen aber besonders der Pharmabranche sollten zukünftig dringend Redundanzen in das System einbauen, auch wenn diese zunächst kostenintensiv scheinen. Die Corona-Krise macht das auf schmerzliche Art deutlich und ist sicherlich eine Erinnerung an die Notwendigkeit, Risiko und Ausfallsicherheit bei der Gestaltung der Versorgungsnetze frühzeitig zu berücksichtigen.
* Der Autor ist Geschäftsführer bei LLamasoft Deutschland.
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