Roland Berger Analyse Pharmaindustrie: De-Risking ist das Gebot der Stunde
Anbieter zum Thema
Apotheken ohne Antibiotika oder Fiebersäfte: Die Engpässe der letzten Monate zeigen, wie verletzlich die Lieferketten der europäischen Pharmaindustrie sein können. Nun sind Unternehmen gefordert, die eigenen Risiken zu senken. Gleichzeitig muss die Politik den Standort Europa attraktiver machen.

Die Hersteller von pharmazeutischen Erzeugnissen sind traditionell erfolgsverwöhnt. Dank der immer schnelleren Entwicklung und Einführung von DNA- und RNA-Therapeutika und Fortschritten in der der Zell- und Gentherapie prognostizieren Experten auch für die kommenden Jahre Wachstumsraten von mehr als 9 Prozent.
Europa ist – gemessen am Wert der Produkte – zwar nach wie vor die führende Exportregion von Fertigarzneimitteln, doch die Abhängigkeit von kritischen Substanzen aus dem Ausland nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Weil sich inzwischen fast 40 Prozent der Produktionsstandorte für pharmazeutische Zwischenprodukte und APIs (Active Pharmaceutical Ingredients) in Indien oder China befinden und rund 80 Prozent der weltweit hergestellten APIs aus dem Reich der Mitte stammen, sind westliche Unternehmen besonders verwundbar. Covid 19-Pandemie, angespannte Handelsbeziehungen und eine immer labilere weltpolitische Lage haben uns gelehrt, welches Gefahrenpotenzial geopolitische Schocks und Handelsbeschränkungen bergen – die aktuellen Versorgungsengpässe bei Antibiotika oder Fiebersäften vermitteln hiervon einen ersten Eindruck.
Weil es derzeit keine nennenswerten Programme zum Aufbau groß angelegter Kapazitäten für niedermolekulare Wirkstoffe in der westlichen Welt gibt, wird sich an der geschilderten Situation kurzfristig wenig ändern. Westliche Unternehmen, vor allem die aus Europa, verfolgen stattdessen immer häufiger eine Hochtechnologie-Strategie: Sie setzen auf die Produktion und Weiterentwicklung von Large Molecules beziehungsweise Biologics und CGTs (Cell and Gene Therapies), also Zell- und Gentherapien. Den Wettlauf um die besten Bedingungen zur Produktion von Rohstoffen und APIs scheinen die hiesigen Standorte dagegen längst verloren zu haben.
Lieferketten: Risikominimierung auf der ganzen Linie
Was heißt das für deutsche und europäische Unternehmen, die auf Rohstoffe und APIs aus Fernost angewiesen sind? Und welchen Beitrag kann die Politik leisten, um ein weiteres Abwandern leistungsfähiger Chemie- und Pharmaproduzenten in andere Märkte zu verhindern?
Neben dem Anlegen von Vorräten ist die Risikominimierung durch eine Diversifikation der Lieferantenbasis und des Produktionsnetzwerks die Strategie der Wahl, etwa durch Partner in Indien, Süd- beziehungsweise Osteuropa oder dem Mittleren Osten. Folgende Handlungsfelder stehen dabei im Vordergrund:
- Bedarfsplanung: Ein sorgfältiges Bestandsmanagement ermöglicht eine flexible Anpassung von Produktionsmengen. Das umfasst die Erhöhung der Lagerbestände sowie den Aufbau von Kapazitätspuffern in Fertigungsstätten. Auf diese Weise ist jederzeit ein Sicherheitsbestand an kritischen Arzneimittelkomponenten vorhanden, Produktionsanlagen sind flexibel für zusätzliche Bedarfe nutzbar. Auch strategische Partnerschaften können ein sinnvolles Instrument sein.
- Netzwerke und geografische Präsenz: Mit einem flexiblen, modularen Fertigungsansatz lässt sich die Produktion im Bedarfsfall relativ schnell an andere Standorte verlagern. Wie vorteilhaft eine solche Dezentralisierung sein kann, zeigt das Beispiel von Biontech. Das Unternehmen, das Impfstoffe in Afrika herstellen lassen will, verwendet hierfür mobile Container-Produktionsanlagen – sogenannte „Biontainer“. Gleichzeitig wird ein Trend zur Deglobalisierung erkennbar. Unternehmen produzieren vermehrt im heimischen Markt, beziehen Produkte von Nearshore-Anbietern oder verlagern ihre Offshore-Produktion an vorteilhaftere Standorte – immer auf der Suche nach einer möglichst zuverlässigen Lieferkonstellation.
- Auslagerung und flexible Beschaffung: Flexible Verträge mit Lieferanten und Herstellern ermöglichen die schnelle Anpassung von Produktionsmengen und -orten und somit die zügige Reaktion auf Marktverknappungen. In der Vergangenheit führte die Konzentration auf einen einzigen Lieferanten meist zu Kosteneinsparungen. In der Pandemie hat sich gezeigt, wie riskant diese Strategie sein kann. Mit einem größeren Lieferantennetzwerk, das sich über mehrere geografische Regionen hinweg erstreckt, können Unternehmen ihre Fertigungsagilität deutlich verbessern und ihre Lieferketten resilient ausrichten. Dies erfordert insbesondere eine gründliche Analyse, welche relevanten Stoffe abgesichert werden können.
- Digitalisierung: Robuste digitale Systeme, Analyseprogramme und Lösungen auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) sorgen für mehr Visibilität in Netzwerk und Lieferkette. Nachfrageschwankungen und drohende Engpässe lassen sich so besser vorhersehen. Mit digitalen Instrumenten können zudem Schwachstellen oder Risiken in der Lieferkette besser erkannt und Störungspotenziale minimiert werden. Aber auch in der Produktion eröffnet die Digitalisierung enorme Potenziale, etwa zur Kostensenkung.
Produktportfolio: New Modalities mit neuen Anforderungen
Sogenannte New Modalities wie Zell- und Gentherapien (CGT) haben mit ihrem Potenzial, schwere Krankheiten wie Krebs und hartnäckige Virusinfektionen zu heilen, einen radikalen Wandel in der Pharma- und Biotech-Industrie eingeläutet. Obwohl bislang erst ein gutes Dutzend Therapien in den USA und der EU zugelassen sind, erreichen die Umsätze bereits schwindelerregende Höhen. Allein ein neues Medikament zur Behandlung spinaler muskulärer Atrophie hat seit 2019 einen Umsatz von rund 3,6 Milliarden Dollar erzielt. Der Markt wird unseren Berechnungen zufolge in den nächsten Jahren rapide wachsen und könnte bis 2026 einen Umsatz von 28 Milliarden Euro erreichen. Der Umsatz mit nicht-krebsassoziierten Gentherapien wird bis 2025 um fast 25 Prozent zunehmen.
Individualisierte, auf die genetischen Gegebenheiten einzelner Personen zugeschnittene Therapien sind damit keine Zukunftsmusik mehr. Mit Kosten von bis zu 3,5 Millionen US-Dollar etwa für eine Einmal-Infusion zur Behandlung von Hämophilie B bleiben sie allerdings vorerst extrem teuer. Unternehmen, die solche Medikamente herstellen, brauchen völlig neue Herstellungsmethoden. Die Effizienz einer Massenproduktion ist bis auf Weiteres nicht zu erwarten. Neben der Wahl des richtigen Vektors ist ein hoher Automatisierungsgrad eine der zentralen Einflussgrößen einer erfolgreichen Fertigungsstrategie.
Die Politik muss Anreize für Investitionen schaffen
Wer sich in der Welt umschaut, wird schnell feststellen, dass eine wettbewerbsfähige Pharma- und Chemieindustrie in vielen Ländern zu den politisch besonders im Fokus stehenden Schlüsselindustrien zählt. Das ist unter anderem in China der Fall, wo Unternehmen von einem ganzen Bündel direkter und indirekter Unterstützungsmaßnahmen profitieren. Die Länder im mittleren Osten möchten sich in Zukunft ebenfalls mit attraktiven Standortbedingungen und günstiger Energie an den globalen Lieferketten beteiligen.
Aber auch die Regierungen in den USA oder Indien investieren massiv in die heimische Chemie- und Pharmaproduktion. Wie eine Analyse der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) zeigt, hat sich der Vorsprung der USA bei den Ausgaben für F&E gegenüber Europa in den vergangenen 20 Jahren verzehnfacht. Der Anteil der EU an den weltweiten F&E-Investitionen ist gleichzeitig von 40 auf 30 Prozent zurückgegangen. Europäische Firmen haben zudem allein durch die hohen Energiepreise mit großen Wettbewerbsnachteilen zu kämpfen.
Auch bei den Biopharmaunternehmen ist der Anteil Europas seit Jahren rückläufig. Dagegen ist der Anteil aufstrebender chinesischer Biopharmaunternehmen an der weltweiten Pipeline zwischen 2016 und 2021 mit einer Rate von 456 Prozent rasant gewachsen. Die EU-Pharmastrategie erkennt die Bedeutung der Finanzierung auf EU-Ebene und der nationalen Programme zur Unterstützung von KMU zwar an, doch weiterführende Initiativen gibt es bislang nicht.
Fehlende staatliche Unterstützung ließe sich beispielsweise durch Investitionsanreize für private Kapitalgeber kompensieren, sei es durch die Öffnung von Rentenfonds für Risikokapital, sei es durch Steuererleichterungen für Erbschaften, die in Biotech-Investitionen fließen. Die deutsche Gesetzgebung sieht derartige Instrumente bisher allerdings überhaupt nicht vor.
Ob sich die weltweit führende Position vieler europäischer Unternehmen unter diesen Voraussetzungen langfristig halten lässt, ist fraglich. Die demografische Entwicklung, aktuelle Versorgungsengpässe und das enorme Potenzial neuer Modalitäten wie innovativer Zell- und Gentherapien geben jedenfalls ausreichend Anlass, jetzt unterstützende Maßnahmen einzuleiten.
(ID:49608012)