Digitalisierung in der Instandhaltung Ausprobiert, nicht ausgerollt: Was bremst die Instandhaltung 4.0?

Von Dominik Stephan*

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Zwischen Datenbrillen und Predictive Analytics: Als vor einem Jahrzehnt die vierte industrielle Revolution ausgerufen wurde, herrschte bei Instandhaltern und Betreibern Goldgräberstimmung. Doch nach zahllosen Pilotprojekten und Case-Studies ist die Realität im Feld immer noch das Klemmbrett und nicht der Tablet-PC. Bringt 2020 auch in der Instandhaltung die Digitalisierungswende, oder kommt der Kater 4.0?

Mit Datenbrille und Helmkamera: Industriedienstleiter Bilfinger machte im Corona-Jahr Instandhaltern vor Ort Expertenwissen digital zugänglich.
Mit Datenbrille und Helmkamera: Industriedienstleiter Bilfinger machte im Corona-Jahr Instandhaltern vor Ort Expertenwissen digital zugänglich.
(Bild: Bilfinger)

Scheckheftgepflegt: Nicht nur automobile Liebhaberstücke, auch Prozessanlagen können, regelmäßige Pflege vorausgesetzt, nach jahrelangem Einsatz „so gut wie neu“ sein. Was zu tun ist, verraten detaillierte Checklisten, die gleich noch die Dokumentation der geleisteten Arbeit sicher stellen. Doch diese Ära nähert sich ihrem Ende: Anfang des Jahres begann der Spezialchemiekonzern Lanxess damit, über 400.000 Betriebs- und Instandhaltungs-Listen nach und nach zu digitalisieren. „Die Zeiten von Klemmbrett, Zettel und Stift gehören bald der Vergangenheit an“, ist sich Benedikt Efker, Leiter Digitale Produktion, sicher. „Mit Tablets, die direkt mit den zentralen IT-Systemen verbunden sind, machen wir die Arbeit in Produktion und Instandhaltung effizienter, komfortabler und sicherer.“

Damit liegen die Kölner voll im Trend: Nicht erst seit 2020 erreicht die Digitalisierung – nach MSR-System und Leitwarte – den Betrieb und die Instandhaltung. Die Idee an sich ist nicht neu: Seit Jahren versuchen Technologiespezialisten bei ihren Produkten einen „digitalen Mehrwert“ mitzuliefern. So sollen Feldgeräte und Komponenten sich selbst überwachen und eine zustandsorientierte Instandhaltung ermöglichen.

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Natürlich spielen in Corona-Zeiten Pandemie und Reisebeschränkungen Brandbeschleuniger: Auch die Prozessindustrie erlebt einen regelrechten Digitalisierungsschub. Wie bisher Techniker, Monteure und Instandhalter an einem Projekt zusammen zu ziehen, gestaltet sich häufig schwierig. Wie also Mitarbeiter verbinden und Wissen verfügbar machen?

Dafür setzt der Wasch- und Reinigungsmittel-Hersteller Henkel die Remote-Assistance-Lösung Vuforia Chalk ein. Mit der Software können User einen Experten remote per Videoübertragung ins Bild setzen und sich wertvolle Unterstützung direkt an den „Ort des Geschehens“ holen. Das spare Zeit sowie Reisekosten und ebne den Weg für eine neue Zusammenarbeit, ist sich der Hersteller PTC sicher.

Die Welt der digitalen Checklisten kennenlernen: Auf www.ptc.com finden Sie einen kostenlosen Vuforia-Chalk-Testaccount

Das Remote-Assistent-Tool kann innerhalb weniger als 30 Minuten installiert werden und lässt sich intuitiv bedienen. Durch die digitale Infrastruktur bei Henkel („Digital Backbone“), waren mobile Endgeräte in den Fabriken bereits ausgerollt und eine Implementierung des Tools konnte schnell erfolgen. „Für uns ist der Austausch unerlässlich. Trotz der momentanen Situation müssen wir auf keine Expertise verzichten und können den Wissensaustausch weiter vorantreiben“, sagt Stefan Göris, Process Consulting Manufacturing Digital Business bei Henkel.

Der vernetzte Instandhalter
Technologie im Fokus

Fachleute im Feld kennen das Problem: Wird ein Instandhalter beauftragt, dauert es, bis dieser die nötigen Informationen zur Problembehebung zusammengetragen hat. Was ist zu tun? Wo ist das Problem? Und welches Werkzeug wird benötigt? Produktionsmitarbeiter und Troubleshooter sprechen häufig nicht dieselbe Sprache. Dabei ginge es im Smartphone-Zeitaleter einfacher: Mit Connected-Worker-Apps, die den Austausch von Nachrichten, Daten und Sachinformationen in standardisierter Form ermöglichen und die Dokumentation gleich mit erledigen.

Der Kollege in der Produktion kann mittels eines Fragebogens die wesentlichen Informationen auf den Punkt hinterlegen, ohne sich über das Was und Wie Gedanken machen zu müssen. Der Techniker plant ausgehend davon seinen Einsatz, die benötigten Mittel sowie Ressourcen und verliert keine Zeit mit der Fehlersuche. Die Dokumentation übernehmen die Apps gleich mit, inklusive Notizen über Auffälligkeiten oder Bilder, entsprechend der Maschinenrichtlinie. Das rechnet sich: Der Connected-Work-Anbieter Hexagon geht davon aus, dass eine Organisation mit etwa 200 Mitarbeitern die Produktivität jedes Einzelnen so um 30 Prozent steigern könnte. Dadurch mache sich ein Invest meist innerhalb eines Jahres bezahlt.

Durchblick digital: Datenbrillen und Helmkameras in der Instandhaltung

Auch der Industriedienstleister Bilfinger setzt AR-Brillen ein, um Experten von anderen Standorten zuzuschalten: So kann ein Experte die Anlage quasi „durch die Augen des Instandhalters“ sehen, per Telefon Anweisungen geben oder technische Informationen in das Sichtfeld der Brille einblenden. Der Fachmann vor Ort hat indessen die Hände frei, um die Reparatur oder Wartung auszuführen. Diese Technologie wurde 2020 zur Trumpfkarte im Lockdown: Bei einer Anlagenoptimierung in Polen konnten die Bilfinger-Experten nicht persönlich anreisen.

Stattdessen stellten sie einem Kundenmitarbeiter eine AR-Brille zur Verfügung und konnten die Anlage gemeinsam virtuell „begehen“. Allerdings sind AR-Brillen vergleichsweise teuer und nicht immer intuitiv zu bedienen. Bei Bilfinger sieht man Hololens und Co. daher als Brückentechnologie. In Zukunft sollen vermehrt Helmkameras, verbunden mit dem Smartphone des Benutzers, zum Einsatz kommen.

Andernorts ist man zurückhaltender: Im oberbayerischen Chemiedreieck spricht sich Infraserv Gendorf für eine Politik der kleinen Schritte aus. So würden nach und nach alle Mitarbeiter im Feld mit Tablet-PCs ausgestattet – der Einsatz von VR-Brillen, der im Rahmen eines Pilotprojektes erprobt wurde, würde nicht weiter forciert.

Stark angefangen, stark nachgelassen? Instandhaltung 4.0 bleibt eine Vision

Ausprobiert ja, ausgerollt nein: Auf diese Formel lässt sich vielerorts der Stand der Digitalisierung zusammenfassen. Kaum ein Unternehmen hat nicht Projekte und Technologien angekündigt, getestet – und dann in der Schublade verschwinden lassen. Dass liegt nicht immer am fehlenden Willen zur Veränderung, auch die unterschiedlichen und komplexen Verfahren machen den Entwicklern das Leben schwer. Konzerne und Großunternehmen können, wenn keine Lösung von der Stange zur Verfügung steht, ihre eigenen Entwickler einspannen – eine Option, die kleineren Firmen schon aus Ressourcengründen schwerer fällt.

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Gefragt sind Know-How und die Bereitschaft, sich auf neue Methoden einzulassen. Gerade in den traditionell handwerklich geprägten Instandhaltungsberufen nicht immer einfach: Maschinenschlosser, Schweißer und Bereichsmeister dürften nicht im Regen stehen gelassen werden, ist man sich bei Infraserv sicher. Um Fachleuchte Industry-4.0-fit zu machen, brauche es entsprechende Schulungen und Befähigungen, so die Chemieparkbetreiber.

Daten managen und dokumentieren: Was danach geschah

Nach der Instandhaltung ist vor der Dokumentation: Auch dabei helfen digitale Checklisten, die direkt mit den Wartungs- und Enterprise-Ressource-Planning-Systemen verknüpft sind. Die sogenannte End-to-End-Einbindung erspart Doppelarbeit und sorgt dafür, dass die Daten korrekt übertragen werden. Die automatische Archivierung erhöht die Rechtssicherheit der Prüfungen.

Bei Lanxess wurde dafür zusammen mit Siemens die Softwarelösung Moby.Check von Log.Go.Motion eingesetzt, mit der sich ohne Programmieraufwand und vorheriges Training Prüf- und Checklisten erstellen und abarbeiten lassen sollen.

Damit ist der Pflicht genüge getan – aber ob sich dieses Format auch für den Wissenstransfer eignet? Wer Expertise in Form kurzer Erklärvideos verfügbar machen will, kann dafür Bilfingers Industrial-Tube-Videoplattform nutzen. Das Ergebnis macht vielleicht keinen Ingenieur zum Industrial-Influencer, hält aber wichtiges Praxis-Know-How in einer standardisierten und zugänglichen Form fest.

Wem das zu viel wird, der kann die Datenerhebung auch Spezialisten überlassen: Firmen wie I-Care bringen das „as a Service“-Konzept in die Welt der Instandhaltung. Die Belgier, die auch Lanxess bei der Datenanalyse unterstützen, wollen auf diese Weise nach eigener Aussage den Einstieg ins Industrie-4.0-Zeitalter erleichtern. „Da Kosten as a Service nach Gebrauch abgerechnet werden, müssen Auftraggeber viel weniger Kapital einplanen“, so Pieter van Camp, CCO von I-Care.

Wer soll das bezahlen? Instandhaltung geht günstig(er)

Alles gewartet und dokumentiert? Dann gilt es, die nächste Instandhaltung vorzubereiten. Funktionen zum Condition Monitoring bzw. für Predictive Maintenance bauen mittlerweile viele Hersteller in ihre Geräte ein. Nicht selten wird eine entsprechende Cloud-­Plattform gleich mitgeliefert. Ein Problem dabei sind die proprietären Strukturen der Web-Dienste, bei denen jeder Hersteller versucht, die eigene Lösung als De-Facto-Standard zu etablieren.

Doch vielleicht wird eine hundertprozentige Anlagenverfügbarkeit gar nicht immer benötigt. Operations Centered Maintenance oder OCM heißt das Konzept, dass den Betrieb in den Mittelpunkt stellt und Instandhaltung „at the Right Cost“ ermöglichen soll. So wird es möglich, proaktiv auf die sich verändernde Anlagen-Auslastung zu reagieren und Verfügbarkeit schnell und sicher bereit zu stellen – während Wettbewerber, die zyklisch agieren, lange „Totzeiten“ abwarten müssen, ehe Invest­ments Effekte erzielen.

Ein Tool, das eine derartig proaktive Instandhaltung erleichtern könnte, ist Stryve, welches die Managementberatung T.A. Cook zusammen mit Deloitte entwickelt hat. Die App hilft, basierend auf Demand-Driven- und Zero-Based- Budgeting, Equipment-Strategien zu bewerten und mit verfügbarkeitsrelevanten Informationen aus der Produktion zu verknüpfen.

Darum darf der Instandhaltung 4.0 nicht die Luft ausgehen

Das klappt nur, wenn Daten auch erfasst und vernetzt werden, heißt es bei Bilfinger. Dafür nutzen die Instandhaltungsexperten unter anderem eine App für Turnarounds und Anlagenstillstände, die das digitale Statustracking einzelner Arbeitsschritte vor Ort ermöglichen soll. Ein mobiles Endgerät werde in Zukunft zur Standardausrüstung im Industrieservice gehören, erklären Firmensprecher.

Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt, heißt es häufig. Doch nach vielen ersten Schritten (manchen davon sicher auch in die falsche Richtung) macht sich mancherorts auch Ernüchterung breit: Nicht jedes Heilsversprechen der Digital-Propheten und Industrie-4.0-Apologeten erfüllt sich in der Praxis – und eine Datenbrille macht noch keinen Digital-Experten.

Immerhin: Mehr und mehr Firmen machen sich Gedanken, wohin die Reise zukünftig gehen soll. Digitalisierung kann kein Selbstzweck sein, schon gar nicht in der Instandhaltung. Für die zweiten und dritten Schritte in Richtung Instandhaltung 4.0 braucht es konkrete Pläne und ­Roadmaps – denn nur wer ein Ziel hat, kann auch eines erreichen.

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