Enpro-Projekt Orca Warum die modulare Anlage ein Ökosystem braucht
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Smarte Module allein, machen noch keine modulare Anlage. Welche Hürden auf dem Weg zur modulare Anlage zu nehmen sind und welche Rolle das Enpro-Projekt Orca dabei spielt, erklärt Projektkoordinator Prof. Dr.-Ing. habil. Leon Urbas Inhaber der Professur für Prozessleittechnik und Arbeitsgruppe Systemverfahrenstechnik an der TU Dresden.

Sie koordinieren in der Initiative Enpro das Orca-Konsortium. Welche Motivation steckt hinter der Projektteilnahme?
Leon Urbas: An der TU Dresden beschäftigen wir uns mit Entwurf und Ausgestaltung zukünftiger Automatisierungsarchitekturen für die Prozessindustrie. Unser Ansatz ist, die Anlagen der Prozessindustrie als cyberphysische Produktionssysteme zu verstehen. Dabei geht es um die Vernetzung der Modelle der Automatisierungs-, Prozess-, Software- und Informationstechnik zu einem digitalen Zwilling. Dieser bringt Kontext in die Anlagen und wir können höher automatisieren. Zudem können die Anlagen sich selbst beschreiben und sie haben ein „Adaptionsbudget“, in dessen Rahmen sie sich autonom an geänderte Kontexte anpassen oder u. a. selbstständig Fehler korrigieren können. Mit dem Ansatz mehr Intelligenz ins smarte Equipment zu bringen, beschäftigen wir uns seit 2006.
In der Softwareindustrie ist das Zerlegen komplexer Aufgaben in wiederverwendbare Module ein grundlegendes Konzept, um Komplexität zu beherrschen, nicht so in der Prozessindustrie. Die Frage „Warum eigentlich nicht“? haben wir uns in der Community 2009 gestellt und erkannt, dass wir eine echte Chance haben, das Mindset zu ändern und eine Evolution einzuläuten, die Vision der 50%-Idee für die Prozessindustrie war geboren. In den letzten Jahren haben wir gelernt, dass das leichter gesagt als getan ist und große wissenschaftliche, technische und organisatorische Herausforderungen an den Nahtstellen von Verfahrenstechnik, Automatisierungstechnik und Informatik in sich birgt. Hier Lösungen zu finden ist für mich der Schlüssel für die digitale Transformation in der Prozessindustrie.
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Ökosystem für die Innovation
Enpro als Innovationsökosystem für die deutsche Prozessindustrie
Was verbirgt sich konkret hinter Orca?
Urbas: „ORCA“ befasst sich mit der Modularisierung, Orchestrierung und Genehmigung von Anlagen. Aus der Unterteilung in Process Equipment Assemblies genannte wiederverwendbare Module entsteht der Bedarf nach einer Methode zur Orchestrierung, also zur Auswahl, Vernetzung und Koordination der Module. Dabei müssen auch die Genehmigungsfähigkeit der modularen Anlagen und die damit verbundenen Genehmigungsprozesse zwingend betrachtet werden. Ziel der Arbeiten in Orca ist Hürden abzubauen, die uns heute daran hindern modulare energieeffiziente Anlagen schneller aufzubauen. Dafür schaffen wir die Grundlagen. Und zwar nicht im Elfenbeinturm, sondern zusammen mit all den notwendigen Akteuren. Den Systemintegratoren, den Automatisierungsherstellern, den Anwendern und Partnern wie X-Visual Technologies, die Teile des digitalen Zwillings bereitstellen. Koordinator für das Orca-Konsortium wurde ich wohl, weil ich anfangs verschiedenen Parteien eingeladen und Einzelinteressen abgestimmt hatte, und das scheinbar nicht ganz schlecht gemacht habe.
Mit welchen Themen bringt sich die Technische Universität Dresden ein?
Urbas: Das erste Thema ist integriertes Engineering. Modularisierung bedeutet, dass Verfahrens-, Automatisierungs- und Softwaretechnik schon in frühen Phasen deutlich enger abgestimmt miteinander arbeiten müssen, um schnell ressourceneffiziente Prozesse mit wiederverwendbaren Modulen ökonomisch realisieren zu können. Das erforschen und lehren wir an der TU Dresden schon lange und bringen es in drei Einheiten zusammen: der Professur für Prozessleittechnik, die sich stark um Automatisierungstechnik kümmert, der Arbeitsgruppe Systemverfahrenstechnik, die sich mit der Systemperspektive der Prozessentwicklung und Prozessoptimierung auseinandersetzt, und dem Process-to-Order-Lab, in dem wir mit Kollegen aus Informatik und Maschinenbau die Grundlagenforschung in technische Lösungen zum Anfassen und Begreifen umsetzen.
Das zweite Thema ist die Informationsmodellierung und das Module Type Package. Seit 2007 bin ich Sprecher des GMA-Fachausschuss 5.16, zunächst „Middleware in der Automatisierungstechnik“, heute umgewidmet in „Zukünftige Architekturen für die Prozessautomatisierung“. Dieser Fachausschuss kümmert sich seit 2014 darum, dass das Module Type Package, also der kleine digitale Zwilling von Modulen, umgesetzt und spezifiziert wird. Aktuell geschieht das in der Richtlinienreihe „VDI/VDE NAMUR 2658“ mit Schwerpunkt auf der Schnittstellenbeschreibung. Die ersten drei Blätter haben wir nun im Weißdruck, drei weitere sind als Gründruck veröffentlicht. Parallel zur Spezifikation weiterer Aspekte haben wir im DKE 941 als nationales Spiegelgremium der TC 65 IEC die Fundamente gelegt, um diese Arbeiten mit der TC 65 WG 14 in die internationale Norm IEC 63280 umzusetzen. International arbeiten wir intensiv mit der Biophorum Operations Group (BPOG) und mit The Open Group zusammen. Wir brauchen herstellerübergreifende neutrale Standards, um das auf große Plattformen zu bekommen, einzelne Akteure nicht auszuschließen und offene Innovation zu ermöglichen. In diese Prozesse bringen wir unsere langjährige Erfahrung im Bereich Informationsmodellierung für verfahrenstechnische Anlagen und für automatisierungstechnische Systeme ein. Und wir übertragen und moderieren auch die Ergebnisse aus Orca.
Das dritte Thema ist das Design des Process Orchestration Layers. Es reicht nicht, schöne smarte Module zu haben, wir müssen diese schnell zu modularen Anlagen zusammenstellen. Als wir 2013 mit dem Thema MTP (Module Type Package) gestartet sind, war uns noch nicht bewusst, welche wichtige Rolle dem Process Orchestration Layer zukommen wird. Dort laufen die Dinge zusammen, dort entscheidet sich beim Kunden, ob die Konzepte so einfach, so gebrauchstauglich und so transparent sind, dass die Komplexität beherrschbar wird. Gleichzeitig ist der Process Orchestration Layer auch ein Gebiet in dem sich vieles differenzieren wird. Persönlich halte ich es nur beschränkt sinnvoll, über die Schnittstellen hinaus zu standardisieren und hoffe sehr, dass wir hier einen Wettbewerb von Ideen erleben werden. Um die Einstiegshürden zu senken und Innovationen zu inkubieren haben wir die Software Polaris als Open Source entwickelt.
Was hat Sie innerhalb der Projektzusammenarbeit am meisten überrascht?
Urbas: Sehr positiv hat mich die Offenheit der Zusammenarbeit über Firmengrenzen und Gewerke hinweg überrascht. Natürlich gab es projektbedingte Schwierigkeiten. Natürlich gab es auch Querschläger. Wirtschaftliche Anforderungen haben den einen oder anderen Partner zumindest temporär gezwungen, sein Engagement für Orca zu verändern. Das Projekt lebt davon, dass dort sehr viele Meinungen zusammenkommen und wir uns sehr konstruktiv streiten. Das funktioniert, weil uns das gemeinsame Ziel, die ressourceneffiziente Prozessbeschleunigung durch modulare Anlagen, bei allen Meinungsverschiedenheiten zusammenhält. Auch wenn wir uns über den Weg nicht immer einig sind. Ich genieße sehr, dass aus dieser Vielfalt eine große Menge an Innovation entstanden ist. Und nach wie vor entsteht.
Überrascht hat mich die Interaktion mit den Genehmigern. Diese waren zunächst sehr reserviert und vorsichtig abtastend. Das hat sich im Rahmen des Projekts deutlich geändert. Zunächst dachten wir, dass im heutigen Gesetzesrahmen modulare Anlagen nicht genehmigt werden können. In einer Reihe von Workshops haben wir dann Lösungsansätze gefunden und eine Roadmap entwickelt, die aufzeigt, dass und wie wir das im Rahmen der heutigen Gesetzeslage durch Ausführungsvorschriften und ‚Ausführungshinweise‘ rechtskonform hinbekommen. In einem Handbuch werden die Anforderungen an die Architekturen und Prozesse so erklärt, dass der Genehmiger, als Partner des produzierenden Gewerbes, verstehen kann, dass die eingesetzte Technik ihre Funktion erfüllt, die Anlage im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes sicher betrieben wird sowie überprüfbar ist, ob die getroffenen Maßnahmen tatsächlich das Risiko so weit mindern, dass die Anlagen verantwortlich betrieben werden. Bis wir die ersten Anlagen realisieren, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Das war auch nicht das Ziel von Orca, wir wussten, dass wir in den Mühen der Ebene bleiben werden.
Eine andere Überraschung für mich war, wie viele andere Parteien aufgesprungen sind und wie viele Anfragen wir von Firmen bekommen haben, die in Orca mitmachen wollten.
Was würden Sie in einer Weiterentwicklung der Initiative Enpro anders machen?
Urbas: Für die weitere Entwicklung halte ich eine deutliche Öffnung und ein flexibleres Zu- und Abgangsmodell von Partnern für sinnvoll. Und wir wollen einen Verbund von Demonstratoren dediziert als eigenes Projekt aufbauen, weil wir bei dem Entwurf von Orca deutlich unterschätzt haben, wie viel wir noch vor uns haben. Auf der anderen Seite: hätten wir es nicht unterschätzt, hätten wir es vielleicht gar nicht gestartet.?
Mit welchem Projekt wird die TU Dresden in einer nächsten Phase der Initiative Enpro in Zukunft dabei sein und welche Gründe waren ausschlaggebend für die Auswahl des Projektes?
Urbas: Wir arbeiten gerade an zwei Skizzen. Die erste davon beinhaltet einen vernetzten Demonstrator für optimierte Prozessketten. Hier bringen wir drei Felder von Expertise zusammen. Aus Darmstadt das Thema smarte Funktionseinheiten, aus Dortmund das Thema smarte Prozessapparate und aus Dresden das Thema smarte Anlagenorchestrierung. Dabei setzen wir auf den Ergebnissen auf, die in Enpro-2.0 –Projekten generiert wurden sowie bei der Zusammenarbeit in VDI/VDE, Namur und IEC. Dieser Demonstratorverbund wird an drei Standorten aufgebaut. Entstehen soll damit ein neutraler Erprobungsort für neue Konzepte aller Akteure. In der Vergangenheit haben wir mit dem Process-to-Order-Lab sehr gute Erfahrungen gemacht, jetzt wollen wir das größer und breiter aufstellen. Deswegen haben wir drei Standorte und drei Themen, die unterschiedliche Aspekte intensiv behandeln.
Das klingt komplex: Wo soll der Fokus liegen?
Urbas: Deswegen wollen wir es im Verbund machen. Wir werden also konsistent digitalisierte Demonstratoranlagen nach aktuellen Richtlinien und Anforderungen der Betreiber aufstellen. Wir werden die existierenden digitalen Zwillinge erweitern und zusammenführen. Und praktische Erfahrungen sammeln, wie der digitale Zwilling oder die digitalen Zwillinge mit den Anlagen weiterleben und deren Lebenszyklus unterstützen. Diese Demonstratoranlagen sind die Basis, um Hands-on-Workshops für Betreiber und Zulieferer durchzuführen und erfahrbar zu machen, wie sie sich an diesem Ökosystem beteiligen können. Wir wollen auch eine Plattform schaffen, in der sich alle Teilnehmer, selbstverständlich unter Einhaltung aller Verhaltensregeln und kartellrechtlicher Rahmenbedingungen, über aktuelle Themen austauschen können. Und natürlich sollen an diesen Standorten Module und Anlagen weiterentwickelt werden. Diese Plattform ist offen für Equipment- und Modulhersteller.
Was genau soll diese Plattform leisten?
Urbas: Wir helfen dabei, die Anforderungen der Betreiber zu verstehen und befähigen sie dazu, Module mit einem digitalen Zwilling zu liefern und darüber einen Markteintritt vorzubereiten. Planer, Integratoren, Softwarehersteller haben damit ein größeres Spielfeld. Sie werden Benchmarks haben. Sie werden dort öffentlich zugängliche und kommunizierbare Prozesse haben, die dann nicht über Non-Disclosure-Agreements geknebelt und geknechtet sind. Wir wollen Entscheidungssituationen deutlich transparenter machen als es in bilateralen Vereinbarungen möglich ist. Damit erhoffen wir uns, dass es ein Inkubator für beschleunigte Innovation wird. Für die Betreiber gibt es öffentlich sichtbare Referenzfälle, in denen sie sehen können wie Anlagen sicher und modular realisiert sind bzw. werden, wie schnelle Genehmigungsprozesse aussehen können und wie wir öffentlich darüber sprechen können. Das wird uns helfen, Referenzfälle zu schaffen, über die man öffentlich sprechen kann. Für die Gesellschaft geht es um die konsequente Umsetzung der von ihr geförderten Forschung. Das ist immer noch vorwettbewerblich, aber mit dem Ziel einen nationalen Markt für die wettbewerbsfähige, energieeffiziente Prozessindustrie zu fördern. Und wir bilden Fachleute aus, die diese Konzepte konsequent umsetzen können. Wir wollen hier, vielleicht als großes Delta zu Orca, eine offene Innovationsplattform schaffen. Wir glauben, dass die digitale Transformation, die wir beobachten, ganz wesentlich davon lebt, dass wir Information teilen, und von bi- und unilateralen Geschäftsideen zu einer Plattformökonomie vordringen. Das ist ein erster Versuch dorthin zu kommen.
Das hört sich sehr spannend an. Nun gibt es den Processnet Arbeitskreis Dexpi (Data Exchange for the Process Industry). Dort werden Standards definiert, um Fließbilder unterschiedlicher Softwarehersteller in einem Standardformat auszutauschen. In dieser Initiative sitzen auch Wettbewerber an einem Tisch. Die Unternehmen sprechen sich nicht grundsätzlich für Open Source aus, wissen aber, dass sie sich stellenweise öffnen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wie sehen Sie diesen Aspekt?“
Urbas: Sie haben vollkommen recht. Offen bedeutet nicht Open Source. Open Source ist sicherlich ein Vehikel mit ganz interessanten Aspekten. Der Quellcode des Frontends der Corona-Warn-App wurde veröffentlicht. Das hilft, um Innovationen durchzuführen, um Gerüchte zu entkräften und um zu überprüfbaren Algorithmen zu kommen. Hier halte ich Open Source für sehr wichtig. In anderen Dingen sind koordinierte, kurierte offene Prozesse, die Teilhabe erlauben, sinnvoll. Damit das zügig geht, braucht man stabile Kernteams. Ich denke hier an das Thema Standardisierung. Wir haben hier die Art und Weise, wie wir standardisieren, auf den Prüfstand gestellt. Wir haben während der Ideensammlung und Konzepterstellung sehr viel offenere Prozesse durchgeführt als sonst. Die geschlossenen, hochkonzentrierten Prozesse in einem kleinen Team waren in der Schlussphase sinnvoll, in der es um die Qualitäts- und Konsistenzsicherung ging. Diese große, offene Beteiligung macht Prozesse nicht langsamer und nicht wirklich schneller. Manche Diskussionen müssen immer wieder und wieder geführt werden. Das Ergebnis ist allerdings besser. Dieser Plattform-Gedanke ist der Schlüssel für Digitalisierung, auch in dem Forschungsschwerpunkt Energieeffizienz in der chemischen Verfahrenstechnik. Neben der oben genannten Skizze verfolgen wir eine zweite Skizze, mit der wir wichtige wissenschaftlich-technische Lücken schließen wollen, die wir in Enpro 2.0 für die Implementierung eines mit der Anlage mit-lebenden digitalen Zwillings erkannt haben. Das wollen wir, wie in Orca, in einem Konsortium mit hoher Schlagkraft machen. Mein Wunsch für den Schwerpunkt Enpro in dem Forschungsfeld Energieeffizienz in der chemischen Verfahrenstechnik ist, dass wir uns sowohl noch stärker öffnen als auch das Gute von Enpro bewahren können: das sehr konzentrierte, gemeinsame Arbeiten an konkreten Problemlösungen mit der Verwertung und Umsetzung in Stahl und Eisen in Sichtweite.
* *Jenny Orantek leitet das Marketing des Softwarespezialisten X-Visual
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