Chemieindustrie warnt vor Rezession Zurück auf Null: Mit dem Ukraine-Krieg kippt die Stimmung in der Chemieindustrie

Von Dominik Stephan

Jahr für Jahr das Gleiche: Zahlen, die besser sein könnten. Appelle an die Politik. Und dann auch noch die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns, Lieferproblemen und Wirtschaftsverwerfungen. Doch das ist 2022 selbstverständlich nur am Rande wichtig – der russische Überfall auf die Ukraine ändert alles. Die Stimmung in der Industrie kippt und wischt bisherige Voraussagen vom Tisch. Jetzt müsse alle Industriepolitik auf den Prüfstand, erklärt der VCI.

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Dunkle Wolken über der Chemie: Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Zweckoptimismus der Branche Makulatur.
Dunkle Wolken über der Chemie: Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Zweckoptimismus der Branche Makulatur.
(Bild: gemeinfrei / Pixabay )

Frankfurt/Würzburg – Die Schockwellen erreichen die Industrie: Die Chemisch-Pharmazeutische Industrie wollte 2022 endlich aus dem Sumpf der schlechten Zahlen ausbrechen – dann kam der russische Angriff auf die Ukraine. Dadurch seien innerhalb weniger Wochen die Erwartung der Branche für die Geschäftsaussichten 2022 gekippt, so der VCI auf seiner Wirtschaftspressekonferenz. Der Verband sieht die „wirtschaftliche Zahlen relativiert, angesichts der Bilder von Tod und Zerstörung“. Jetzt überbieten sich die Schwarzseher: Schon heute gehen 54 Prozent der Chemiefirmen von einem Rückgang von Produktion und Umsatz im Jahresverlauf aus. Der Verband selbst hält sich bedeckt: „Jegliche Prognose wäre im hohen Maß spekulativ“, betont VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.

Dabei spielen weder Russland noch die Ukraine für die deutsche Chemieindustrie eine entscheidende Rolle: Beide Länder machen in Summe knapp 3 Prozent der deutschen Chemie- und Pharmaexporte aus (zuletzt gut 6,8 Milliarden Euro). Die Branche ist zudem mit Tochterunternehmen vor Ort aktiv: Auf die Region entfallen rund 2 Prozent ihrer Direktinvestitionen im Ausland.

Die rund 70 Betriebe beschäftigten nach Schätzung des VCI insgesamt etwa 20.000 Personen vor Kriegsbeginn. „Die russische Invasion ist ein brutaler Anschlag auf das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und in keiner Weise zu rechtfertigen. Daran ändern auch die staatliche Propaganda, Lügen und Fake News aus dem Kreml nicht das Geringste“, erklärte der VCI-Hauptgeschäftsführer.

Rohstoff- und Energieabhängigkeit ist die Achillesferse der Chemie

Insbesondere die steigenden Rohstoff- und Energiepreise setzten der Branche zu: 70 Prozent der Unternehmen berichten über gravierende Probleme für ihr Geschäft durch die hohen Energiepreise. 85 Prozent geben an, dass sie steigende Produktions- und Beschaffungskosten entweder gar nicht oder nur zum Teil weitergeben können – und der Spielraum wird immer kleiner. Zwar waren vor dem russischen Angriff die Zahlen im vierten Quartal 2021 verhalten hoffnungsfroh, doch gingen schon vergangenes Jahr Produktionsauslastung und Margen zurück.

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Käme dazu das vielzitierte Energieembargo, würde die Industrie auf breiter Front getroffen: „Tiefe Einschnitte in das Produktionsniveau der Branche wären nicht nur bei großen energieintensiven Unternehmen zu erwarten, sondern wären auch im Mittelstand und wohl über alle Sparten hinweg unvermeidlich. Über die Wertschöpfungsketten würde sich der Effekt auf die gesamte Industrie in Deutschland fortpflanzen“, so Große Entrup. Nahezu alle Branchen, von der Landwirtschaft über Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bauwesen, Verpackung, Pharma oder Elektronik wären von einer Unterbrechung ihrer Lieferketten betroffen.

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Die Folgen: „Mit einer schweren und mehrjährigen Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen muss gerechnet werden. Und anders als in der Finanz- und Coronakrise würde sich bei einer Industriekrise Deutschland nicht relativ schnell wieder erholen. Dann steht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel.“ Entsprechend wollen sich weder der VCI noch sein Geschäftsführer festlegen – die erwarteten Aussichten für 2022 bleiben in der Schublade, auch das ein Novum.

Seit Kriegsbeginn sind die Gaspreise für Industrieunternehmen um 70 Prozent gestiegen, so Große-Entrup. Diese Mehrkosten könnten nur zum Teil an die Kunden weitergegeben werden, da diese selbst unter Druck stehen und die Erzeuger im Wettbewerb mit internationalen Playern stünden, die diese Schwierigkeiten nicht hätten. Die Chemie selbst verbraucht satte 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff (27 Prozent des Gesamtverbrauchs) und 99,3 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent) für die Erzeugung von Dampf und Strom im Jahr ein. Und es ist nicht das Gas allein: Mehr als die Hälfte der Chemiefirmen beklagt fehlende Vorprodukte.

Unter diesen Gesichtspunkten müssen sämtliche industriepolitischen Vorhaben auf den Prüfstand, fordert der VCI. Zwar steht der Verband grundsätzlich hinter Green-Deal und Klimaschutz, mahnt aber an, dass vor dem Umbau der Industrie ihre Erhaltung und Stärkung kommen müsse. Also Ausbau der erneuerbaren Energien – unbedingt und mit voller Kraft – während zugleich ein Aussetzen des Kohleausstiegs kein pauschales Tabu ist. Außerdem müssten nun Vorhaben, wie das Lieferkettengesetz oder die neue Chemiekalienrichtlinie der EU, wenn nicht gekippt, dann doch zumindest auf Eis gelegt werden.

Auch an dem geplanten CO2-Grenzausgleich der EU lässt der VCI wenig Gutes: Die rechtssichere Ausgestaltung stehe „in den Sternen“ und selbst dann drohe „ein Bürokratiemonster, das neue Handelshemmnisse aufbaut“. Außerdem auf dem Wunschzettel: Schnellere Genehmigungsverfahren, und das nicht nur für Windrad und Photovoltaik, sondern auch für die Industrie.

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