Rückblick auf 20 Jahre Verfahrenstechnik Wie ein langer, ruhiger Fluss …

Autor / Redakteur: Dipl.-Ing. Sabine Mühlenkamp* / Wolfgang Ernhofer

Ohne mechanische Verfahrenstechnik wäre die Prozessindustrie nicht denkbar! – Häufig steht sie am Anfang (etwa beim Zerkleinern) oder am Ende (Sortieren) des Prozesses. Dennoch hat sich die Rolle in den vergangenen Jahren gewandelt. Wurde sie früher eher als Hilfsmittel betrachtet, übernimmt sie heute Schlüsselpositionen.

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Auf den ersten Blick findet man bei den mechanischen Grundverfahren kaum Bewegung in den vergangenen 20 Jahren. Und auf den zweiten Blick? Zumindest in der jüngsten Vergangenheit hat sich doch einiges bewegt – nicht nur in der Mischtechnik.
Auf den ersten Blick findet man bei den mechanischen Grundverfahren kaum Bewegung in den vergangenen 20 Jahren. Und auf den zweiten Blick? Zumindest in der jüngsten Vergangenheit hat sich doch einiges bewegt – nicht nur in der Mischtechnik.
(Bild: © marigold_88 - Fotolia.com)

An den grundlegenden Techniken in der mechanischen Verfahrenstechnik hat sich nicht viel geändert. Ob Siebmaschinen, Mühlen oder Zentrifugen – die dabei eingesetzten Technologien sind Jahrhunderte alt. Allerdings brodelt es unter (oder bei mechanischen Verfahren besser gesagt an) der Oberfläche gewaltig, und so mancher Entwicklungsingenieur versucht derzeit die Physik wenn schon nicht zu überlisten, so doch zumindest bis in ihren Grenzbereich hin auszureizen.

„Allgemein kann man sicherlich sagen, dass in den vergangenen 20 Jahren das Prozessverständnis deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig hat der Automatisierungsgrad der Verfahren zugenommen, und die theoretische Abbildung von Prozessen gewinnt zunehmend an Bedeutung. So ist die Simulation von Feststoffprozessen, etwa mit Hilfe der Diskrete-Elemente-Methode, heute dank gestiegener Rechnerleistungen viel realistischer“, beschreibt Dr.-Ing. Lars Frye, Head of Solids Processing bei Bayer Technology Services, seinen Eindruck von der Entwicklung in diesem Bereich.

Mit anderen Disziplinen kombiniert

Darüber hinaus werden – so seine Erfahrung – mechanische Verfahren verstärkt mit anderen Disziplinen, wie zum Beispiel der Grenzflächenphysik, verknüpft. Ein Beispiel hierfür ist die elektrostatische oder sterische Stabilisierung bei der Nasszerkleinerung in Rührwerkskugelmühlen. Diese ermöglicht die Herstellung immer kleinerer Partikelgrößen. Während man sich vor 20 Jahren eher im Mikrometer-Bereich bewegt hat, ist hier die Nanotechnologie inzwischen in der Praxis angekommen.

Verständnis für Prozess gewachsen

Wesentlich weiter reichen auch die Möglichkeiten, die sich heute in der Partikelanalyse auftun, und dies nicht nur in Bezug auf die Ermittlung der Größenverteilung. Die großen Fortschritte etwa bei den bildgebenden Verfahren eröffnen einen detaillierten Blick auf den Prozess. Während man vor zwei Jahrzehnten mit viel Empirie an die Optimierung mechanischer Verfahren herangegangen ist, ist das Verständnis dafür, warum und wie ein Prozess abläuft, um einiges gewachsen.

„Heute weiß man eher, was an den Grenzflächen passiert und wie sich dies auf den Prozess auswirkt. Gleichzeitig ist man jetzt in der Lage, Partikelgröße und manchmal sogar Partikelform inline zu messen. Dadurch lassen sich Materialeigenschaften von Partikeln wie etwa Größe, Kristallmorphologie oder Form gezielter steuern“, erklärt Frye.

Nicht nur die Partikelgrößen werden immer kleiner, auch die während der Entwicklung zur Verfügung stehenden Mengen nehmen ab. „Vor einigen Jahren haben wir im Bereich der Schüttgutcharakterisierung noch Mengen von ca. 200 ml für die Durchführung eines Versuches benötigt. Derzeit kommen wir in der Regel mit 30 ml aus. In Zukunft werden wir, wenn man an aufwändig entwickelte und eventuell zusätzlich noch individualisierte Wirkstoffe denkt, unter Umständen mit wenigen Gramm für unsere Entwicklungsarbeiten auskommen müssen“, nennt Frye ein Beispiel.

Entwicklung neuer Apparate

Die Fragen, mit denen sich die Forscher nun auseinandersetzen: Wie gestalte ich in diesem Umfeld, in dem Wandeffekte nicht mehr vernachlässigbar sind, Messmethoden und Apparate so, dass damit noch effizient und reproduzierbar gearbeitet werden kann? Und wie lässt sich im Bereich der Feststoffverfahrenstechnik der Trend zur kontinuierlichen Fahrweise von Prozessen umsetzen?

„Gelingt es uns, diesen zusätzlichen Einflussfaktoren bzw. Randbedingungen Rechnung zu tragen? Wie stellen wir z.B. die kontinuierliche Dosierung kleinster Feststoff-Massenströme sicher“, so Frye. Oder wie lassen sich die bei der Feststoffabtrennung häufig eingesetzten Zentrifugen, die nun einmal per se im Batch betrieben werden, in kontinuierlich geführte Prozesse integrieren? „Da man auch bei kontinuierlichen Verfahren die Physik nicht aushebeln kann, sind hier neue Lösungsansätze und die Entwicklung neuer Apparate gefordert“, beschreibt Frye die zukünftigen Herausforderungen.

Die Ansprüche steigen

Auch auf der Apparateseite wachsen die Anforderungen. Bereits der Schritt Mischen ist heute viel mehr als eine verfahrenstechnische Grundoperation. Dies kann bedeuten, Partikel zu coaten, zu agglomerieren oder zu dispergieren, zu spheronisieren oder zu konditionieren. Der Fokus liegt auf den Endprodukten und deren Eigenschaften. Damit wächst die technische Herausforderung, schließlich steigen die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Mischaufgaben, und dies fordert die genaue Kenntnis über die Prozesse und Anforderungen der Kunden.

„Die Ansprüche an die Produkteigenschaften sind in den vergangenen 20 Jahren erheblich gewachsen, und dies unabhängig von der Branche. Unsere Kunden sind mit immer komplexeren Produkteigenschaften bei gleichzeitig steigenden Qualitätsansprüchen konfrontiert und bitten uns, eine Lösung hierfür zu erarbeiten“, so Reiner Lemperle, Prokurist und Vertriebsleiter bei Gebr. Lödige Maschinenbau.

Dazu gehört beispielsweise, dass die Partikelgrößen immer feiner werden und dementsprechend auch immer feinere Verteilungen gefordert sind. „So müssen wir uns durchaus mit Größenordnungen im Nanobereich auseinandersetzen. Zudem werden inzwischen einige mechanische Verfahren vermehrt auch mit thermischen Verfahren kombiniert, so dass sich hier neue Herausforderungen aus Apparatesicht ergeben“, ergänzt Lemperle.

Atex für alle

Weitere Veränderungen aus Apparatesicht sieht Lemperle durch die verbindliche Einführung der Atex-Richtlinie RL94/9/EG seit dem Jahr 2003. „Selbstverständlich waren mechanische Apparate auch davor sicher ausgelegt, konstruiert und geliefert worden, dennoch ist der Betrachtungswinkel in Bezug auf die Auslegung heute ein anderer“, verweist Lemperle auf die Entwicklung in der Sicherheitstechnik.

Neuerung gibt es auch durch branchenspezifische Impulse, etwa durch den zunehmenden Einsatz von kontinuierlichen Verfahren in der Pharmaindustrie. „Die Umsetzung eines bis dahin reinen Batchverfahrens auf eine kontinuierliche Produktion erfordert nicht nur technologische Neuentwicklungen seitens der Apparatehersteller, sondern auch organisatorische Umstellungen seitens der Betreiber“, gibt Lemperle eine weitere Richtung vor, mit der sich Apparatebauer auseinander setzen müssen. Hierzu gehören etwa Dokumentationspflichten und der enge Kontakt zu Regulierungsbehörden, wie der FDA.

Nach wie vor spielen jedoch auch Mischgüte und Mischzeiten eine wichtige Rolle. So macht das Thema Effizienz vor der mechanischen Verfahrenstechnik nicht Halt – eine Homogenisierung der Einzelkomponenten sollte so schnell und effizient wie möglich erfolgen. Ein weiterer Aspekt ist der Einsatz von Energieeffizienz der Antriebsmotoren und die Verwendung von frequenzgeregelten anstelle von polumschaltbaren Motoren.

An den Kern

Interessantes Entwicklungspotenzial gibt es derzeit bei der Rohstoffgewinnung. Beim Urban Mining spielte die mechanische Verfahrenstechnik vor 20 Jahren noch keine Rolle, da die Karten für seltene Erden noch ganz anders verteilt wurden. Auf Grund der protektionistischen Maßnahmen einiger weniger, aber maßgeblicher Rohstofferzeuger (beispielsweise China) rückt aktuell das Recycling der strategischen Seltenerd- bzw. Edelmetalle sowie anderer hochwertiger mineralischer Rohstoffe in den Fokus der Forschung und Entwicklung.

Wer bedenkt, dass eine Tonne PC-Motherboards 30 mal mehr Gold als eine Tonne aus der Minengewinnung enthält, betrachtet die mechanische Aufbereitung mit anderen Augen. Allerdings ist die Rückgewinnung von Metallen, insbesondere von seltenen Erden, aber auch Gold, Silber und Kupfer, sehr komplex und mit hohem energetischem Einsatz verbunden. Speziell angepasste Aufschlusszerkleinerungs- und Sortierprozesse sollen hier Abhilfe schaffen. Wird das Motherboard zum Beispiel vor dem Shredder nicht entfernt, ist es sehr schwer bis unmöglich, an die wesentlichen Spurenelemente noch heran zu kommen. In diesem Beispiel bedeutet das einen Goldverlust von 75 %.

Die mechanische Verfahrenstechnik mit ihren klassischen Disziplinen Zerkleinerung/Klassieren steht am Anfang dieser Prozesskette und beeinflusst die nachfolgenden Prozessschritte – sprich, ob sich ein Urban Mining überhaupt lohnt – maßgeblich. In einem Dechema-Positionspapier von 2013 wurde dieses Thema klar als Zukunftsthema definiert.

Ausblick

Diese Beispiele, seien es Fragestellungen, wie man mit Kleinstmassenströmen umgeht, bei denen die Physik eigentlich der Aufgabe Grenzen aufzeigt, oder die groben Massen-Recycling-Ströme, in denen zukunftsträchtige Werkstoffe gesucht werden, zeigen das großartige Potenzial der mechanischen Verfahrenstechnik. Obwohl die Klassiker der Verfahrenstechnik über viele Jahre perfekt funktioniert haben, ist es Zeit für die Branche, sich neuen Herausforderungen zu stellen.

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