Anlagenmodernisierung Starke Nerven gefragt: Wie durch den Corona-Virus ein Pharmaprojekt zum Wettlauf gegen die Zeit wurde
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Was als ganz normales Retrofit-Projekt dreier Steuerungen begonnen hat, wurde durch das Corona-Virus zum spannenden Wettlauf gegen die Zeit. Das Team von Glatt erwischte den letzten Flieger aus Ägypten und leistete vom Homeoffice aus Nachtschichten, um das Automatisierungssystem zum geplanten Zeitpunkt an den Start zu bringen. Das bereits installierte Service-Portal bestand damit gleich seine Feuertaufe.

Frank Lindemann hat als alter Hase bei Glatt schon eine Menge erlebt und als gebürtiger Schwarzwälder ist ihm der Gleichmut quasi in die Wiege gelegt. Aus der Ruhe bringt ihn nach über 20 Jahren Projekterfahrung kaum noch etwas. Doch das Retrofit-Projekt, das er vom Juli letzten Jahres bis zum April 2020 bei einem Global Player der Pharmaindustrie in Ägypten abwickelte, hat auch seinen Puls gelegentlich in die Höhe getrieben.
Ägypten mal nicht als Urlaubsland
Jetzt läuft die umgebaute Anlage seit gut fünf Monaten stabil im 24/7-Betrieb und sein Stresspegel ist wieder auf dem gewohnten Niveau. Aber der Reihe nach.
Ägypten verbinden viele mit Pyramiden, Sonne und Strand – also Ferien. Lindemann, seit 1987 bei Glatt im Boot, kennt Ägypten jedoch von einer anderen Seite. Abseits allen Urlaubsfeelings gibt es seit Jahren eine florierende Pharmaproduktion, welche die heimischen und angrenzenden Pharmamärkte versorgt.
Seit 2004 ist Glatt hier Partner eines Global Players, der mit einer Granulationslinie und einem Coater verschiedene OSD-Produkte produziert.
Die seinerzeit aus Binzen gelieferte Anlage besteht aus einem Vertikal Granulierer VG 400, einem Wirbelschichter der Baureihe WSG Pro 120, einem Tablettencoater der Baureihe GCM 175 sowie einer Reinigungsstation. Die drei Prozessmaschinen haben jeweils eigene Steuerungen und sind inklusive der Reinigungsstation untereinander vernetzt.
Das war der technische Stand, als Lindemann mit seinem Team Anfang des Jahres 2019 bei einem routinemäßigen Serviceeinsatz in Kairo mit den Verantwortlichen in die Diskussion ging.
„Die Steuerungen und die zugrunde liegende Windows-Version waren völlig veraltet“, erinnert sich der Retrofit-Spezialist. Es fehlten moderne Bedienelemente, ganz zu schweigen von papierlosem Batchrecording und CFR Part 11 konformer Protokollierung oder einer OPC UA Schnittstelle. Kurz: Die Anlage war knapp 15 Jahre nach ihrer Inbetriebnahme einfach nicht mehr auf dem Stand der Technik. Die Unternehmensführung entschied also, dass es an der Zeit war, die Steuerungs- und Sicherheitstechnik auf Vordermann zu bringen.
Kick off war im Juli. In großer Runde mit Produktion, Instandhaltung und Engineering legte man Projektumfang und Umsetzungszeitplan fest – alles ziemlich ambitioniert, aber machbar: Der Start vor Ort war für März 2020 geplant, Ende April 2020 sollte die Anlage wieder in Produktion gehen. „Unser Ziel war es, zu Ostern alles fix und fertig zu haben“, erzählt Lindemann. Am 9. April, am Gründonnerstag, sollten die drei Steuerungsspezialisten wieder in den Flieger nach Deutschland steigen, um das Osterfest mit ihren Familien zu verbringen.
Zwischen Zoll und Corona
Doch es kam anders. Als im Januar 2020 die Medien zum ersten Mal über eine neue Lungenentzündung in China berichteten, schien eine Pandemie weit entfernt. Der Glattexperte reiste Anfang Februar diesen Jahres – Covid-19 war inzwischen auch in Deutschland angekommen – nach Ägypten, um die aus Deutschland angelieferten Steuerungen und Ersatzteile am Flughafen in Kairo in Empfang zu nehmen.
Hier erwartete ihn ein mittleres Chaos. Der ägyptische Zoll hatte zugeschlagen: Aufgerissene, notdürftig wieder zugepackte Kisten, ein Bedienpanel mit 19 Zoll Touchscreen auf dem ein scharfkantiges Winkeleisen lag. „Gott sei Dank war nichts beschädigt, unsere drei Steuerungsfachleute konnten zügig mit der Montage beginnen“, berichtet Lindemann. In Deutschland verschärfte sich in der Zwischenzeit die Corona-Situation und auch die ägyptische Regierung, die eine Zeit lang recht lax mit der Krankheit umgegangen war, machte Basare und Läden dicht. Des Weiteren gab es politischen Druck auf die Verantwortlichen im Pharmabetrieb: Die Anlage sollte so schnell wie möglich wieder in Gang kommen, um die Produktion rund um die Uhr sicher zu stellen.
Mit dem letzten Flugzeug raus aus Ägypten
Eine komplexe Gemengelage, in der die Steuerungsfachleute mit Hochdruck daran arbeiteten, die Automatisierungskomponenten und das Serviceportal für den Fernzugriff auf die Apparate zu installieren. „Wir hatten das Serviceportal gerade scharf geschaltet, da erreichte uns die Nachricht, dass der letzte Flieger aus Ägypten bald starten würde“, erinnert sich Lindemann. Also packte das Team in Windeseile alles zusammen und flog nach Deutschland zurück. Immer die Zeit im Nacken, denn die Inbetriebnahme musste Ende April abgeschlossen sein. Länger würde der auf Lager produzierte Medikamentenvorrat, der die Zeit des Anlagenstillstandes überbrücken sollte, nicht reichen.
In den nächsten Tagen richteten sich die Kollegen in einem Besprechungsraum der Binzener Zentrale ein und prüften gemeinsam mit dem Servicekollegen in Kairo und den Projektkollegen des Pharmaunternehmens, ob die Remote-Verbindung in den Betrieb halten würde. „Um dem Kunden in Zukunft bei einem Anlagenstillstand jederzeit Hilfestellung per remote leisten zu können, ist eine sichere und geschützte Internetverbindung bis zum Anlagen PC notwendig“, betont Lindemann, der aus Erfahrung weiß, dass stabile Internetverbindungen in Ägypten nicht unbedingt selbstverständlich sind.
Tatsächlich: Alles funktionierte und dann kam der nächste Rückschlag. In Deutschland rief die Regierung den Lockdown aus und von jetzt auf nachher wurden die Kollegen des Serviceteams ins Homeoffice geschickt, schließlich waren sie gerade erst aus einem Risikogebiet zurück gekommen.
Video-Schalte aus dem Homeoffice
Also ging es an drei verschiedenen Standorten von zuhause aus weiter. Per Fernzugriff über das Serviceportal dirigierte man den Kollegen vor Ort und das Projektteam des Kunden in der Anlage. Der gemeinsame Kraftakt gelang: Die Steuerungen wurden aufgespielt, Inbetriebnahme und Qualifizierung im Zeitplan über die Bühne gebracht. Lindemann: „Dank der Unterstützung und Expertise unseres ortsansässigen Vertreters kann das Pharmaunternehmen seit Abschluss der Inbetriebnahme eine 24/7-Fertigungsbetriebsbereitschaft sicherstellen.“
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