Digitalisierung Scheitern digitale Geschäftsmodelle am fehlenden Vertrauen?
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Jeder spricht von der Plattformökonomie, doch die Umsetzung hakt. Wer in der Prozessindustrie nach digitalen Geschäftsmodellen sucht – Fehlanzeige. Vordergründig geht es um Datensilos, fehlende Schnittstellen und mangelnde Konnektivitäten. Dr. Thomas Endress, Executive Director EMD Digital bei Merck in Darmstadt glaubt, es fehle eher an Vertrauen in die digitalen Wertschöpfungsketten. Wie Merck das ändern will und welche Vision dahinter steht.

Seit es Industrie 4.0 gibt, verspricht die Digitalisierung der Prozessindustrie mehr Effizienz, bessere Wettbewerbsfähigkeit, mehr Umsatz, neue datenbasierte Geschäftsmodelle. Doch vor allem mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle tut sich die Branche schwer. Während alle Welt bereits vom Metaverse schwärmt, in dem Avatare durch virtuelle Welten spazieren, hinkt die Chemiebranche hinterher. Aber woran liegt es, dass die Plattformökonomie in Deutschlands drittgrößtem Industriezweig so schwer in Schwung kommt? Liegt es an fehlender Vernetzung der Wertschöpfungsketten, an den immer noch bestehenden Datensilos, mangelt es an der Bereitschaft Daten zu teilen oder ist es vielleicht doch etwas ganz anderes?
Thomas Endress, Executive Director EMD Digital bei Merck glaubt, es fehlt an etwas, was bei den vielen Buzz-Words, die um den Industrie 4.0-Hype kreisen, fast altmodisch anmutet: „Digitalisierung braucht Vertrauen“, sagt er. Damit, Geschäftsmodelle wie „Pay-per-Parts“, „Pay-per-Use“ „Pay-per-Performance“ endlich Wirklichkeit werden, sei „cyberphysical trust“ Voraussetzung. Ohne das Vertrauen in die digitalen Wertschöpfungsketten und die Identität des dort verkauften Guts, käme die „token Economy“ nie in Schwung.
Vom WWW 2.0 zum WWW 3.0
Der promovierte Physiker leitet bei Merck ein Team, das sich mit den dazu nötigen Authentifizierungstechnologien beschäftigt und dazu Blockchain, Crypto Anker, digitale Zertifikate und Smart Contracts nutzt. „Wir schlagen die Brücke zwischen Materialien und digitalem Geschäft“, erklärt Endress – eine starke Vereinfachung, angesichts der Gedanken, die den Physiker beschäftigen.
Er ist einer der Visionäre, die sich mit der nächsten Evolutionsstufe des World Wide Web beschäftigen: Web 3.0. Hinter der Zahl verbirgt sich eine gewaltige Umwälzung: Das „Netz“ soll endlich vom Datensammler zum Datenversteher, der Nutzer unabhängig von der Macht der großen Internetkonzerne werden und die Verfügungsgewalt über seine Daten zurück bekommen. Maschinen sollen mit Maschinen Geschäfte abwickeln und das ganz ohne menschliche Eingriffe. Noch klingt das nach ferner Zukunft und momentan reichlich kryptisch.
Geld mit Daten verdienen – das kann doch momentan nur Google oder?
Was sich dahinter verbirgt ist allerdings weit weniger spektakulär – es geht ums Geld und um die Frage, wie Unternehmen die Daten, die im Laufe eines Produktlebenszyklus anfallen in klingende Münze umwandeln können. Wie das endlich ins Rollen kommt, war das Thema Nr. 1 auf der Hannover Messe in diesem Jahr und treibt alle an, die sich mit Industrie 4.0 beschäftigen. Das zeigen Initiativen wie Manufacturing-X, mit der ZVEI und VDMA die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle beflügeln wollen – und auf europäischer Ebene Gaia-X, ein Open Source-Projekt, das ein „Ökosystem aus vernetzten Datenräumen“ entwickeln will.
Momentan herrscht deshalb bei den großen Software- und Technologieunternehmen so etwas wie Goldgräberstimmung. Ob Microsoft, SAP oder Siemens – digitale Ecosysteme oder Plattformen für Ecommerce schießen wie Pilze aus dem Boden. All diese Geschäftsmodelle werden erst funktionieren, glaubt Endress, wenn es Lösungen gibt, die den vielbeschworenen Cyberphysical Trust ermöglichen: „Wir können erst mit Daten Geld verdienen, wenn wir digitale Identitäten für physische Produkte schaffen, die von allen Marktteilnehmern akzeptiert werden.“
Wie kann digitales Vertrauen entstehen?
Und was hat Merck nun damit zu tun? Der Feinchemiekonzern versteht sich als Enabler, der Materialien für Sicherheitsmerkmale entwickelt und so die digitale Wertschöpfungskette sicherer machen will. Dazu gehören z.B. Sicherheitspigmente oder Pigmente für Lasermarkierungen. Doch das Team um Endress will nicht einfach nur Chemikalien verkaufen sondern „trust“ in die Kette bringen. „Wir schaffen gemeinsam mit Partnern ein System, das den Zugriff auf eine gemeinsame nicht manipulierbare Datenquelle erlaubt“, erklärt er.
Einer der Partner ist Siemens. Seit 2021 arbeiten die beiden Konzerne zusammen. Aufgabe von Siemens ist der Aufbau eines objektzentrierten IIoT-Datenökosystems in dem der Datenaustausch abgewickelt werden soll. Außerdem will man das Siemens-Rückverfolgungssystem einbringen. Merck hingegen steuert sein „Crypto-Anchor-Technologieportfolio“ bei.
Ein Ausweis für den digitalen Zwilling
Hier kommt dann auch der digitale Zwilling ins Spiel, der wie ein Produktpass fungiert und über eine Identifikationsnummer mit dem physikalischen Objekt wie z.B. der im Beispiel erwähnten Spritze von Gerresheimer, gekoppelt ist. „Vereinfacht gesagt, stellen wir Ausweise für digitale Zwillinge her, damit der Marktteilnehmer auch weiß, das dieser echt ist,“ erklärt Endress. Im Fachjargon heißt das „Crypto-Anchor“ und verknüpft reale mit digitaler Welt.
Der einfachste Fall ist ein QR-Code, der über einen QR-Code-Reader auf eine Webseite führt. Es geht aber auch aufwändiger und da ist man dann bei Blockchain und damit kryptographischen Techniken, die alle Transaktionsdaten speichern und für die Ewigkeit festhalten.
Das alles klingt nicht nur kompliziert, sondern ist es auch. Anders als mancher glaubt, geht es bei dem Vorhaben von Merck nicht darum, Datenpakete verschlüsselt über einheitliche Schnittstellen weiter zu geben. Die Herausforderung, sagt Endress, sei im Moment den potentiellen Interessenten klar zu machen, dass es hier nicht ums Daten teilen geht, sondern um die Vergabe von Zugangsberechtigungen, die den Zugriff auf einen bestimmten Datensatz erlauben. Und das können je nach Teilnehmer, Interessenlage und Zugangsberechtigung ganz unterschiedliche Informationen sein.
Referenzproben: Großes Geschäft mit viel Potenzial
Als großes Thema haben die Experten von Merck die Qualitätssicherung und -kontrolle identifiziert. Beides seien immer noch stark vom Menschen geprägte Prozesse und daher relativ manuell, kostspielig und fehleranfällig, sagt Endress. Gerade in der Pharmaindustrie gibt es keinen Spielraum für Fehler. Vertrauen in die Richtigkeit der Ergebnisse ist hier besonders wichtig und Unternehmen betreiben einen hohen Aufwand mit Audits, redundanten Kontrollpunkte, Zertifikate, Schulungen und vielem mehr. Gleichzeitig klagen Beteiligte über hohe Effizienzverluste, weil Laboratorien, Behörden und andere in der Kette ihre Daten wie einen Augapfel hüten und die Bereitschaft zu teilen, besonders wenig ausgeprägt ist.
PROCESS-Veranstaltungen 2023
Waren Sie schon mal bei einer unserer Veranstaltungen? Falls ja, kommen Sie hoffentlich wieder, falls nein, werfen Sie doch mal einen Blick auf die Veranstaltungsseiten und profitieren Sie von Frühbucherrabatten.
Am 13. und 14. September finden der Smart Process Manufacturing Kongress , sowie das SIL-Forum in Würzburg statt.
Am 21. und 22. November können Sie bei den Förderprozessforen netzwerken. Bei Wasserstoff-, Pumpen- und Schüttgutforum sind bestimmt auch spannende Themen für Sie dabei.
Hier will Merck ansetzen und hat mit Price Water House Coopers ein Konzept entwickelt, welches Geschäftsmodelle verändern und der Digitalisierung den entscheidenden Schub verleihen soll. Die Rede ist vom Geschäft mit Referenzproben – Analystenmeinungen zufolge ein Multi-Milliarden-Dollar-Markt – der mit jährlichen Wachstumsraten bis 2028 von 6,8 Prozent Begehrlichkeiten weckt. Ob bei der Kalibrierung von Messgeräten, Schadstofftests oder Wareneingangtests – stets wird gegen eine Referenzprobe getestet, die absolut verlässlich sein muss, was das „Certificate of Analysis“ garantiert. „Um in der Qualitätskontrolle den Aufwand zu reduzieren, muss jeder Arbeitsschritt im Labor transparent und jederzeit nachprüfbar sein. Wir brauchen deshalb für das „Certificate of Analysis“ eine digitale Entsprechung“, erklärt Endress.
....und was Merck davon hat
Mit dem Kauf von Millipore vor ein paar Jahren ist Merck selbst in die erste Liga der Unternehmen aufgestiegen, die Reagenzien und Chemikalien für die Laboranalyse entwickeln und verkaufen. Naheliegend also der Wunsch, einen digitalen Marktplatz rund um digitale Dienstleistungen für die Laborkunden zu installieren. „DERM“ heißt das Konstrukt, bei dem es, vereinfacht ausgedrückt, um mit Blockchain „aufgepeppte“ Referenzmaterialien geht, die vom Analyseroboter gemäß der Spezifikation direkt geordert werden und nach Abgabemenge berechnet werden. Das dazugehörige Portal hält die Daten der Referenzmaterialien als digitale Zwillinge bereit und sammelt aus den unterschiedlichen Quellen die Informationen, um den Zwilling stets auf dem aktuellen Stand zu halten.
Dahinter steckt natürlich stets ein Kunde, der den Auftrag auslöst, aber alles was danach kommt, soll später ein reiner Peer-to-Peer-Prozess mit Machine-to-Machine-Kommunikation sein, dezentral organisiert und mit gleichberechtigten Partnern.
Ein weiteres Projekt hat Merck gemeinsam mit Gerresheimer im letzten Jahr gestartet. Auch hier geht es um vernetzte Lieferketten. Ausgangspunkt sind Spritzen, die mit einer eindeutigen Identifikation versehen sind und eine Smartpone-App, die zur Authentifizierung der Spritze und dem Einlesen der Kennung genutzt wird.
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Digitale Zwillinge für Primärverpackungen
Endlich Durchblick in der Pharma-Lieferkette: Was Kryptografie und Blockchain damit zu tun haben
Gerresheimer will die App – gegen Gebühr versteht sich – an autorisierte Personen weitergeben, die dann auf die hinterlegten Qualitäts- und Ursachenanalysedaten sowie Bearbeitungsfunktionen für Kundenreklamationen zugreifen können. Der Plan ist zukünftig Wirkstoffproduzenten, Hersteller, Abfüller, Logistiker und andere Akteure der Wertschöpfungskette, einzubinden.
Ideen, wie man das Geschäft noch weiter treiben könnte, hat Endress viele: Denkbar seien z.B. Performancemodelle, bei denen Abfüllmaschinen die Zahl der abgefüllten Spritzen selbst in Rechnung stellen. Das spare Capex und mache den Hersteller flexibel für wechselnde Marktanforderungen. Auch dafür sind Authentifizierungsroutinen nötig, die das nötige Vertrauen schaffen.
Fliegen solche Geschäftsmodelle in der Zukunft, bedeutet das nicht nur eine gewaltige Umwälzung für die gesamte Branche sondern liefern auch eine Blaupause, wie das Datengeschäft funktionieren könnte – und für Endress eine Bestätigung seiner Theorie, das es bei der gesamten Digitalisierung auch um Vertrauen und einen fundamentalen Kulturwandel geht.
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