Chlorchemie im Wandel (R)Evolution in Sachen Chlor: Was kommt nach dem Quecksilber?
Das Aus für Quecksilber bedeutet nicht das Aussterben der Branche – Eine neue Ära für Europas Chlorchemie: Wenn im Dezember 2017 die letzten Amalgam-Anlagen außer Betrieb genommen werden, endet ein Technologie-Zeitalter. Doch mit der Membranelektrolyse steht der nächste Schritt in der Verfahrens-Evolution schon in den Startlöchern. Zwischen Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Sicherheit stellt sich die Branche auf die nächste Stufe der Chlor-(R)Evolution ein.
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Ist Chlor am Ende? Das vielseitige Element, als Grundstoff für Polymere sowie Pharmazeutika geschätzt, von Umweltschützern als giftiges „Teufelselement“ verschrien, hat eine harte Zeit hinter sich. Im März 2017 ging die europäische Chlorproduktion gegenüber dem Vorjahr zurück: 791 833 Tonnen Chlor (2016: 802 803 Tonnen) entsprechen einem Rückgang um 1,4 %.
Gleichzeitig fällt im Dezember in der EU der Vorhang für den Produktionsprozess mit Quecksilber-Elektroden, das sogenannte Amalgam-Verfahren. Dieses Elektrolyse-Verfahren, bei dem eine Quecksilber-Kathode zum Einsatz kommt, ist zwar hoch selektiv, aber durch das giftige und umweltgefährdende Quecksilber auch ein Risikofaktor für Betreiber, Anwohner und Umwelt. Entsprechend stuft die EU-Regulierungsbehörde das Amalgam-Verfahren nicht mehr als „best available technology“ ein.
Die Galgenfrist läuft ab...
Am 11. Dezember 2017 läuft die Galgenfrist für diese Produktionsform ab – weltweit dürfen die Quecksilber-Anlagen zur Chlorproduktion entsprechend der Minamata-Konvention noch bis 2025 betrieben werden. Zur Zeit werden etwa 20 % des europäischen Chlors im Amalgam-Verfahren hergestellt, wobei diese Zahlen schon jetzt stark rückläufig sind. Doch die Uhr tickt!
Trotzdem: Die „chlorfreie“ Zukunft wird nicht kommen. Auf der Eurochlor-Konferenz 2017 in Berlin war vom Schreckgespenst der Anlagen-Stilllegungen, das in den vergangenen Jahren die Diskussion beherrschte, keine Rede mehr. Experten gehen davon aus, dass bis Ende des Jahres fast alle 23 verbleibenden Amalgam-Anlagen (Stand: 2016) auf die Membranelektrolyse umgerüstet werden.
Eine neue Zeit bricht an
Zwar leiden Anlagenbauer und Zulieferer unter der Investitionszurückhaltung der Industrie, doch zeigen sich erste Anzeichen vorsichtigen Optimismus. Jetzt will die Eurochlor, der Interessensverband der Chlorchemie beim europäischen Chemieindustrie-Verband Cefic, die Branche auf eine neue Zukunft einschwören, die von drei Themen bestimmt sein soll: Nachhaltigkeit, Energieversorgung und Sicherheit.
An insgesamt drei Tagen tauschten sich auf der zehnten Eurochlor Technologie- Konferenz in Berlin Technologieexperten, Anlagenbetreiber, Engineering-Spezialisten und Waste-Manager über alle Aspekte der Chlorproduktion von Energieeffizienz bis zur Entsorgung von anfallendem Quecksilber aus.
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Eurochlor 2017
Chlorchemie zwischen Bangen und Hoffen: Eurochlor 2017 soll neues Zeitalter einläuten
360 Teilnehmer aus 34 Ländern diskutierten mit Technologiespezialisten, Anlagenbauern, Verantwortlichen aus Politik und Regulationsbehörden sowie Experten für Rückbau und Entsorgung quecksilberhaltiger Rückstände. Über 50 Firmen präsentierten in der angegliederten Ausstellung Lösungen von Armaturen über smarte Prozessteuerungen, von Apparaten und Rohrleitungen bis zu leistungsfähigen Prozesspumpen.
Wie wird Chlor nachhaltig?
Die gute Nachricht: Es gibt eine Zeit nach dem Amalgam-Verfahren. Lediglich zwei Anlagen seien derzeit von der Schließung bedroht, ist man sich bei Eurochlor sicher. Zwar lässt der Neuanlagen-Bauboom auch weiter auf sich warten, doch versprechen wenigstens Umrüstung und Rückbau der alten Quecksilber-Anlagen volle Auftragsbücher.
Jetzt hat sich die Branche die Themen Sicherheit, Nachhaltigkeit und Energie auf die Agenda gesetzt. „Sicherheit ist unsere Lizenz zur Produktion“, stellte Ton Manders, der Technische Direktor der Eurochlor beim Klassentreffen der Chlorchemie klar.
Und da gebe es noch viel zu tun, erklärte der Spezialist selbstkritisch: „Unsere Perfomance ist nicht gut genug.“ Zwar seien die Unfallzahlen leicht rückläufig, bezogen auf die Zwischenfälle pro produzierte Tonne Chlor stagnierten die Zahlen jedoch. Bis zur internationalen Chlor-Alkali-Konferenz im September soll die Branche einen Zehn-Punkte-Plan für mehr Sicherheit vorlegen, so Manders.
Die Stromrechnung ist (mal wieder) das Sorgenkind der Branche
Dabei lässt besonders das Dauerbrenner-Thema Energie die Branche unruhig werden: Immerhin ist die Chlorelektrolyse ein äußerst energieaufwändiges Verfahren – und dadurch in Europa unter hohem Kostendruck. Energiesparen steht also nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen ganz oben im Lastenheft der Anlagenbetreiber.
Die aktuellen Zahlen verpassen jedoch allzu kühnen Visionen einen Dämpfer: Seit 2015 stieg der Energieverbrauch zur Chlorerzeugung nach Jahren des Rückgangs wieder leicht an (um 1,2 % gegenüber dem Vorjahr).
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Eurochlor 2014
Chlorfrei in die Zukunft? Eurochlor zwischen Bangen und Hoffen
Zwar liegen die aktuellen Werte immer noch ca. 3,7 % unter dem Niveau von 2011 (und fast zehn Prozent unter dem von 2001), aber der Trend zu geringeren Verbrauchswerten scheint etwa 2013 zum Stillstand gekommen zu sein. Grund dafür könnte die abnehmende Effizienz der alternden Amalgam-Anlagen sein, vermuten Fachleute.
Trotzdem ist nicht anzunehmen dass der Energieverbrauch der Branche noch viel weiter zurück geht: Die Energiemenge, die zur Elektrolyse benötigt wird um das Kochsalz aufzuschließen, lässt sich nicht umgehen. „Chlor ist gespeicherte Energie“, erklärt Dieter Schnepel, Eurochlor-Chairman und Vizepräsident von Dow-Stade – deswegen sei es auch so reaktionsfreudig.
Entsprechend macht sich der Interessensverband Eurochlor dafür stark, die Chlor-Alkali-Chemie als Sekundär-Emittenden im Emmisionshandel mit entsprechenden Rechten zu bedenken.
Schon jetzt spart die Branche durch die stoffliche Nutzung des Reaktionsprodukts Wasserstoff, von dem 89 % als Basischemikalie, zur Dampferzeugung oder für Brennstoffzellen genutzt werden. Durch den Einsatz depolariserter Kathoden kann in einigen Fällen sogar die Entstehung von Wasserstoff ganz vermieden werden.
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Chlorchemie vor dem Aus?
Keine Zeit zu verlieren: Endgültiges Aus für Quecksilber in der Chlorchemie
Die Quecksilber-Frage
Größere Sorgen macht den Anlagenbetreibern die Entsorgung der Quecksilberrückstände aus Amalgam-Altanlagen: Bis zu 6000 Tonnen müssten nach 2017 entsorgt werden, schätzen Branchenkenner. Doch wohin mit dem giftigen Übergangsmetall?
Ein Export elementaren Quecksilbers ist nach den neuen EU-Regulatorien verboten, da die Substanz in vielen Ländern beim Goldbergbau eingesetzt wird. Diese umstrittene Methode führt häufig zu großen Umweltschäden und Gesundheitsrisiken bei Bergarbeitern und der örtlichen Bevölkerung.
Stabilisierungs-Kapazitäten dringend gesucht!
Die Vorschriften schreiben zusätzlich eine Stabilisierung der Abfälle als Quecksilber-Sulphit vor, da das Material in diesem Zustand wesentlich ungefährlicher für Mensch und Umwelt ist. Anschließend kann das stabilisierte Quecksilber z.B. in unterirdische Sondermüll-Lager in Salzstöcken verbracht werden, wie sie der Salz- und Düngemittelkonzern K+S im hessischen Salzbergwerk Herfa-Neurode bietet. Genau das Salz, das als Rohstoff zur Chlorherstellung dient, soll also als Endlager für die giftigen Reststoffe des Herstellungsprozesses dienen.
Allerdings sind die Kapazitäten zur Quecksilberstabilisierung in der EU begrenzt – und auf dem Firmengelände darf der Stoff höchstens ein Jahr lagern, ehe der Standort quasi zur Deponie wird und nach den entsprechenden Regeln arbeiten muss. Auch diese Frist endet nach fünf Jahren, obwohl eine einmalige Verlängerung um drei Jahre in Ausnahmen möglich ist.
Angesichts der knappen Kapazitäten für die Quecksilber-Stabilisierung werde das Amalgam-Verfahren die Branche auch noch lange nach 2017 beschäftigen, glauben Fachleute.
Schon im Jahr 2016 veranstaltete die Eurochlor daher einen Workshop zur Umsetzung von Good-Practice-Beispielen der Verbandsunternehmen.
Das Regelwerk wächst und wächst und wächst....
Nicht nur beim Quecksilber stöhnt die Branche über Auflagen: Aktuellen Studien zufolge haben sich die Regularien für die Chloralkali-Chemie in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Dadurch entstünden Zusatzkosten von etwa 30 %, erklärte der europäische Chemieverband Cefic.
Trotzdem gibt sich die Branche optimistisch: Mit der Umstellung auf die Membranelektrolyse sei die Industrie in Europa gut aufgestellt. Beim Emissionshandel und der Umsetzung der Reach-Regularien stehe mit Cefic ein starker Partner zur Seite.
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Pharmawirkstoffe
Lonzas Ausbau der Pharmawirkstoff-Produktion schreitet voran
Evolution oder Revolution?
So oder so: Die scheinbar schon angezählte Chlorchemie erweist sich als langlebig. Von Revolution oder gar Aussterben der Branche ist nicht mehr die Rede. Tatsächlich zeigt auch auf der Eurochlor die kontinuierliche Weiterentwicklung von Verfahrenskomponenten wie Membranen, Rohren oder Armaturen die Richtung auf. So konnte Asahi Kasei seinen Membranklassiker Aciplex deutlich verbessern: Die Aciplex F7001X erreicht mit einer neuen Beschichtung und verstärkter Membran eine dünnere Schichtdicke und damit hohe Se- lektivität bei niedrigerer Spannung als ihre Vorgängermodelle. Auch Verunreinigungen in der Lauge setzten der Membran weniger zu, betont die japanische Firma.
Thyssen Krupp Uhdes Chlor-Spezialisten Uhde Chlorine Engineers (UCE) präsentierten mit der Nx-Bitac eine weitere Evolutionsstufe ihrer Filterpressen-Technologie ebenso wie das BM 2.7 Membran-Elektrolyse-Element, das Zero-Gap-Membrantechnologie mit einer Single-Cell-Konstruktion verbindet.
Und die in Zusammenarbeit mit Covestro entwickelte depolarisierte Sauerstoffkathode ODC soll Chlorproduzenten helfen, den Energieverbrauch um bis zu 25 % zu reduzieren oder die Produktion bei gleichem Energieeinsatz entsprechend zu steigern.
Chlor 4.0: Eine neue Zeitrechnung
Den Weg in eine ganz neue Evolutionsstufe zeigt das Konzept von Restore, die Elektrolyse-Zellen als flexible Energiekonsumenten per Demand Side Management zur Netzstabilisierung einzusetzen. So ließe sich dank intelligenter Algorithmen und voll vernetzter Produktion innerhalb eines gewissen Rahmens die Zellleistung an die Netzspannung anpassen, um Spannungsspitzen abzufedern, Vesorgungsengpässe zu puffern oder einfach durch einen stabilen Grundverbrauch zur Stabilisierung des Stromnetzes beizutragen.
Dazu entwickelt Restore zusammen mit dem Betreiber Konzepte, wie sich durch die flexible Energienutzung nicht nur die Stromrechnung reduzieren lässt, sondern auch zusätzliche Monetarisierungsmöglichkeiten durch den Emissionshandel und flexible Energepreise gehoben werden können – ganz im Sinne des Industry-4.0-Konzepts, doch angepasst an die Bedürfnisse und Besonderheiten der Chemie. Evolution statt Revolution: Damit tritt die Chlorchemie in ein neues Zeitalter ein.
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