Stoffliche Nutzung von CO2 als Rohstoff Noch kurz die Welt retten? Warum die Defossilierung von der Chemie abhängt

Redakteur: Dominik Stephan

Wenn die Defossilierung gelingen soll, werden Chemie und Anlagenbau eine Hauptrolle spielen – Basischemie ohne Naphtha ist möglich und auch nötig, wenn die Branche ihre Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen durchbrechen will. Damit könnte die Verfahrenstechnik genau die Werkzeuge liefern, mit denen die Welt gerettet werden soll. Aber ob sie das auch will?

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Superheld wider Willen: Bei der De-Fossilierung spielen Moleküle und Verfahrensentwicklung die Hauptrolle.
Superheld wider Willen: Bei der De-Fossilierung spielen Moleküle und Verfahrensentwicklung die Hauptrolle.
(Bild: ©Africa Studio; closeupimages - stock.adobe.com [M] Frank)

Der Fall ist klar: Will die Gesellschaft weg von ihrer verhängnisvollen Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, braucht es mehr als ein paar Windräder und Solarzellen. Auch Emissionszertifikate oder das Elektro-Auto werden die Welt nicht im Alleingang retten. Wenn wir wirklich unabhängig(er) von Kohle, Öl und Erdgas werden wollen, braucht es neue Wertschöpfungsketten. Auch muss die Frage erlaubt sein, woher der Kohlenstoff für Polymere, Pharmazeutika oder Power-­to-X-Projekte kommen soll.

Noch ist es nicht soweit: Noch rauchen die 250 Meter hohen Schlote des größten Hochofens Europas in Duisburg: Das Thyssenkrupp-Stahlwerk produziert Jahr für Jahr Millionen Tonnen Roheisen. Dafür braucht es Kohle: Alleine in Deutschland ist die Stahlindustrie jedes Jahr für etwa 51 Millionen Tonnen CO2-Emissionen verantwortlich. Wer die Geschichte der „fossilen“ Welt von Erz und Kohle mit ihren Umbrüchen, Problemen und Lösungen vom Strukturwandel bis zur Rauchgasentschwefelungen nachverfolgen will, kann in Duisburg auf Spurensuche gehen.

Aus Abgas mach Rohstoff: Chemiekalien aus CO2

Vielleicht kommt man dabei aber auch am westlichen Rand der riesigen Stadt aus Eisen an einer viel kleineren Anlage vorbei. Knallgelb und mausgrau wirkt das Carbon2Chem-Technikum wie ein Farbtupfer inmitten der rostbraunen Hochofen-Landschaft. Doch die Nachbarschaft kommt nicht von ungefähr: Am Alsumer Berg erprobt die Branche eine mögliche Zukunft, in der aus Abgas wieder Rohstoffe werden.

Die Kreislauf-Chemie hängt am Gas, genauer an der Hüttengas-Leitung des integrierten Stahlwerks. Die Abgase von Kokerei, Stahlverhüttung und Hochofen sollen, geht es nach dem Willen der Projektverantwortlichen, ein neues Leben als Methanol oder Ammoniak (und damit schlussendlich als Rohmaterial für Dünger, Reinigungsmittel und Kraftstoffe) bekommen.

Vom Schlot zum Reagenzkolben: So stellt sich das Fraunhofer-Institut die Schornstein-Chemie mit CO2 vor:

Aus Abgas mach Rohstoff. Klingt unrealistisch? Nicht unbedingt: In den letzten zwei Jahrzehnten hat die „Schornstein-Chemie“ der stofflichen Nutzung von Kohlenmonoxid oder -dioxid enorme Fortschritte gemacht. Daran, dass derartige Verfahren prinzipiell möglich sind, besteht mittlerweile kein Zweifel mehr. An der Wirtschaftlichkeit schon eher. Aber helfen derartige Einwände, wenn die EU bis Mitte des Jahrhunderts emissionsneutral werden will?

Bundesforschungsministerin Anja Karliczek jedenfalls bezeichnet die Defossilierung als 5. Industrielle Revolution – dabei hatten wir bisher kaum ein Jahrzehnt, um uns mit Industrie 4.0 anzufreunden. Also, Schluss mit Kohle und Öl und her mit der Kreislaufwirtschaft – wenn es denn so einfach ginge.

Aus der Frühzeit der Chemie: Die Wiederentdeckung von Fischer-Tropsch und Syngas

Die Herausforderung bleibt: Wie soll das reaktionsträge CO2 ermuntert werden, vielfältige chemische Bindungen einzugehen? Bei Carbon2Chem greift man dazu tief in die Werkzeugkiste der Chemie. Immerhin begann die großtechnische Nutzung der Reaktionen und Moleküle vor über einem Jahrhundert mit der Kohlevergasung – und da kommt das Stahlwerk ins Spiel. Hüttengase sind kein Reinstoff, sondern ein Gemisch aus Stickstoff, Kohlendioxid, Kohlenmonoxid und Wasserstoff sowie verschiedenster Spurenstoffe.

Klingt vertraut? Ist es auch: Das Gasgemisch ähnelt frappierend klassischen Synthesegasen. Daraus ließe sich – in der Theorie – etwa Methanol herstellen. Der einfachste Alkohol, im 100-Millionen-Tonnen-Maßstab aus Erdgas, Kohle oder Erdöl gewonnen, gilt als heißer Kandidat für Power-to-Liquid-Verfahren. Da für die Methanolsynthese Wasserstoff benötigt wird, könnte das Molekül im Rahmen der Energiewende auch als stofflicher Stromspeicher Karriere machen – besonders, da Methanol sich im Unterschied zu Wasserstoff gut handhaben und über weite Strecken transportieren lässt.

Darum gelingt die Grüne CO2-Chemie nur mit der Energiewende

Mehr als 20 Millionen Tonnen CO2 könnten alleine in Duisburg eingespart werden, sind die Carbon2Chem-Verantwortlichen optimistisch. Jetzt gehe es darum, „Wissenschaft nicht nur im Labor zu machen, sondern auf die Straße zu bringen”, so Prof. Robert Schlögl vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion, Mülheim an der Ruhr. Der Chemiker gehört zu den geistigen Vätern der Schornstein-Chemie, weiß aber auch um die Herausforderungen: Insbesondere der enorme Wasserstoffbedarf wird für die Entwickler zum Problem: Wollte man den gesamten Kohlenstoff der Stahlwerke in die Kreislaufwirtschaft überführen, seien Elektrolyse-Kapazitäten von 167 TWh nötig – etwa die Produktionskapazität sämtlicher Erneuerbare-­Energien-Anlagen des Landes.

Dafür ließen sich 58 Gigatonnen CO2 auf diese Weise einsparen, etwa 0,35 Mt pro aufgewendete TWh. Natürlich meldet nicht nur die Stahlindustrie Bedarf: Sollte Carbon2Chem ein Erfolg werden, soll das Verfahren an anderen CO2-Punktquellen, etwa der Zementindustrie, ausgerollt werden. Bereits jetzt seien weltweit 50 mögliche Standorte für den C2C-Einsatz identifiziert worden, betont auch Ministerin Karliczek.

Die Wasserstoff-Challenge: Gibt es genug Gas für alle?

Dass Deutschland selbst genügend „grünes“ Elektrolysegas zur Verfügung stellt, ist auch mit den kühnsten Ausbauplänen für Wind- und Solarstrom kaum vorstellbar. Entsprechend nutzen die meisten Versuchsanlagen „grauen“ Wasserstoff, der als Koppelprodukt der Dampfreformierung oder Chlorchemie anfällt. In weiterer Zukunft sind auch quasi emissionsfreie Stahlwerke, etwa durch Direktreduktion denkbar – doch auch hier braucht es Wasserstoff und das sogar in noch größerer Menge.

Und dann ist da noch das Abgas – oder besser Rohgas – selbst: Die veränderliche Zusammensetzung der Hüttengase wird für die bei der Reaktion verwendeten Katalysatoren schnell zum Problem. Ob es der CO2- oder der Sauerstoffgehalt ist, selbst kleine Schwankungen der Zusammensetzung führen dazu, dass sich der Katalysator im laufenden Betrieb verbraucht. Entsprechend arbeiten neben dem Stahlkocher Thyssenkrupp und verschiedenen Fraunhofer-Instituten wesentliche Industrieplayer an der stofflichen Verwertung von Abgasen.

Warum die Chemie die Welt retten muss

Der Chemie kommt dabei eine Rolle zu wie zuletzt während der Entdeckung der Ammoniaksynthese – dabei hadert die Branche selbst mit ihrer eigenen Umweltbilanz. Nicht nur, dass der Sektor zu den energieintensivsten zählt, auch ist die Herstellung von Basischemikalien von fossilen Rohstoffen abhängig. Schon 2019 war die Dechema im einem Positionspapier zu dem Ergebnis gekommen, dass die Chemie tatsächlich nahezu treibhausgasneutral werde könnte, wenn auch zu einem gewaltigen Preis.

Herausforderungen von großer Brisanz, die am 10. März 2021 in Berlin, für einigen Zündstoff sorgen dürften. Green Shift bringt alle wichtigen Protagonisten zusammen, um über den notwendigen Umbau zu diskutieren und der Chemiebranche kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Schließlich gehen fast 80% der deutschen Treibhausgase auf das Konto von Stahl-, Zement- und Chemiefabriken.

So würde durch die strombasierten Power-to-X-Verfahren der Energiebedarf der Chemie ab Mitte der 2030er-Jahre auf 685 TWh jährlich steigen (mehr als die gesamte deutsche Stromproduktion). Dazu kommen zusätzliche Investitionen von geschätzten 68 Milliarden Euro bis 2050. Alleine die CO2-­neutrale Basischemie könnte bis zu 45 Milliarden Euro zusätzlich erfordern, erklären Verbandssprecher.

„Es ist vorbei, C-O-Zwei!”, reimt Ministerin Karliczek und betont Deutschlands Führungsanspruch beim Thema Nachhaltigkeit: „Wir haben sieben Milliarden Euro für das nationale Programm Wasserstoff bereitgestellt und weitere zwei für internationale Partnerschaften.“ Nur: Nicht alles, was sich reimt, muss auch stimmen. Projekte wie Carbon2Chem sind Wegweiser auf dem Weg in eine emissionsneutrale Zukunft – nicht mehr und nicht weniger. Vorbei ist es mit dem CO2 leider erst einmal noch lange nicht.

* Kontakt zu Carbon2Chem: Tel. +49-203-5245005

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