2. Tag der Namur-Hauptsitzung Neue Ideen für die Zukunft der Prozessautomatisierung

Autor / Redakteur: Sabine Mühlenkamp / Wolfgang Ernhofer

Auch der 2. Tag der Namur-Hauptsitzung 2019 ging spannend weiter. Dabei standen Aspekte im Vordergrund, wie sich die Aufgaben der Prozessautomatisierer verändern, aber auch welche neuen Lösungen entwickelt werden müssen, um den Alltag effizienter zu gestalten und den Anwender zu unterstützen.

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Felix Hanisch, Bayer: „Wir müssen schauen, dass wir die guten Konzepte von der IT auf die OT übertragen können.“
Felix Hanisch, Bayer: „Wir müssen schauen, dass wir die guten Konzepte von der IT auf die OT übertragen können.“
(Bild: PROCESS / Mühlenkamp)

Bad Neuenahr; Würzburg – Unterstützung benötigen die Anwender etwa bei der Beurteilung von PLT-Sicherheitseinrichtungen. PLT-Sicherheitseinrichtungen sichern seit vielen Jahren chemische und verfahrenstechnische Anlagen zuverlässig ab, reduzieren das Risiko und bringen Anlagen im Störungsfall in einen sicheren Zustand. Zwar seien die Anforderungen im internationalen Standard IEC 61511 formuliert (der mittlerweile in der zweiten Revision vorliegt), konstatierte Dirk Hablawetz von der BASF zu Beginn seines Vortrags. Aber: Wenn man sich diesen Standard einmal genauer anschaue, werde man feststellen, dass sich nahezu alle Anforderungen auf die Vermeidung systematischer Fehler konzentrieren und nur wenige auf die Ausfallwahrscheinlichkeit. „Dabei müssen auch zufällige Fehler beherrscht werden“, weist Hablawetz auf einen offenen Punkt hin. Immerhin machen diese ein Viertel aller Fehler aus.

Ein weiterer Aspekt ist, dass PLT-Sicherheitseinrichtungen zwar die an sie gestellten Anforderungen zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme erfüllen. Aber wie sieht dies nach zwei, fünf oder mehr Jahren aus? Die Anwender müssen sich also fragen, ob die während der Planung gemachten Annahmen immer noch zutreffend sind.

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Zur Unterstützung der Anwender wurde vor einigen Jahren das Werkzeug Namur.smart eingeführt. Hiermit werden Störungen an PLT-Sicherheitseinrichtungen firmenübergreifend erfasst und ausgewertet. Inzwischen beteiligen sich mehr als 100 Firmen daran. Anders ausgedrückt: In Namur.smart sind 85.000 PLT-Einrichtungen mit Sicherheitsfunktion und mehr als 300.000 Messgeräte erfasst. Das kann sich sehen lassen. „Die Fehlererfassung nimmt auf breiter Basis zu, in 2019 gab es sogar erste Nicht-Namur-Mandaten, die sich daran beteiligt haben“, freut sich Hablawetz. Der Charme von Namur.smart liegt darin, dass damit gleichzeitig der Nachweis der Betriebsbewährung erbracht und so die Anforderungen der DIN EN 61511 Ed.2, der VDI/VDE 2180 und der Störfall-Verordnung (12. BImSchV) erfüllt werden.

In Zukunft sieht Hablawetz neue Herausforderungen in der Risikoanalyse und Bewertung der Sicherheit. Stichworte sind hier das Safety-MTP und Cyber Security. Gleichzeitig gewinnt Software in der Sicherheitstechnik an Bedeutung, etwa durch die KI-basierte Diagnose und Entscheidungsfindung, maschinelles Lernen von Systemen oder die inhärente Systemsicherheit.

IT/OT-ein Tsunami oder eine Welle, die man reiten kann?

Die Welten der Informationstechnik (IT) und der sogenannten Operations Technology (OT) kommen sich spätestens seit der Einführung Windows-basierter Komponenten in der Prozessleittechnik immer näher. Dies ist nicht neu, dennoch scheint es immer noch hohe Klippen zu geben, damit sich die Vertreter der beiden Welten näher kommen. „Man kann Systeme nicht einfach per Knopfdruck hochrüsten, die Produktion steht im Vordergrund!“, nennt Dr. Felix Hanisch, Bayer, nur einen Grund. Die Realität schafft mittlerweile allerdings Tatsachen, längst kombinieren typische OT-Applikationen verschiedene IT-Produkte. Doch es wird immer schwieriger, die verschiedenen Versionen untereinander abzustimmen. Dies liege nicht zuletzt an den unterschiedlichen Vorstellungen vom Lebenszyklus, so Hanisch. Dabei lohne es sich durchaus, auch auf die Vorgehensweise der „IT-ler“ zu schauen. „In der IT werden Standards schneller am Markt etabliert, die IT wird meist effizienter betrieben und neue Produkte sind ebenfalls schneller verfügbar“, so Hanisch.

Interessant ist auch, dass es in einzelnen Namur-Mitgliedsunternehmen zu einer Neuordnung der Zuständigkeiten für IT und OT kommt. Dies sollte als Chance begriffen werden. „Wir müssen schauen, dass wir die guten Konzepte von der IT auf die OT übertragen können“, ermunterte Hanisch, schließlich habe die Prozessleittechnik zwei bis drei Berufsgenerationen Erfahrung mit Digitalisierung ‒ vom Messsignal bis zur Augmented Reality-Anwendung im Feld. Schon heute gäbe es gute Beispiele, wie Konzepte aus der IT auf die Bedürfnisse der Prozessindustrie angepasst wurden, z.B. bei den Wearables.

Digitalisierung in der Prozessindustrie – warum bekommen wir sie nicht zum Fliegen?

Schon seit vielen Jahren wird in der Prozessindustrie über Digitalisierung und über Datenaustausch gesprochen. Bereits im Pressetext zur Hauptsitzung 2001 heißt es: „Unzureichend bis in heutige Zeit ist der Datenaustausch und die Datenführerschaft zwischen den Tools und die Zugänglichkeit der Dokumente für den Betreiber“, mahnte Andreas Schüller, Yncoris. Dies hat sich in den letzten achtzehn Jahren nicht geändert. Typische Fragen seien: Wie müssen irgendwelche Zeichnungen aussehen? Wer hat irgendwelche Daten geändert und warum? Wann wurde irgendein Transmitter eingebaut? „Anscheinend haben wir immer noch genug Geld, um mit Papier zu arbeiten oder einfach Geräte auszutauschen, nur weil wir nicht wissen, wann sie verbaut wurden“, zog Schüller Bilanz. „Digitalisierung findet immer noch stärker in Powerpoint als in der Realität statt.“ Dabei gäbe es durchaus Dienstleister, die dabei helfen, Daten richtig zu organisieren.

Die Ursache liegt seiner Meinung nach u.a. in der unterschiedlichen Interessenslage verschiedener Akteure des Lebenszyklus einer Prozessanlage. Zudem seien in Europa fast alle Projekte Brownfield-Projekte, bei denen eine Digitalisierung des Bestands zu aufwändig sei. Aber es sei doch erstaunlich, dass auch große Greenfield-Projekten nicht mit modernen Ansätzen geplant und später betrieben werden. Schüller ermunterte daher, die derzeit vorhandenen Informationsmodelle wie DEXPI, MTP oder die Verwaltungsschale verstärkt zu nutzen. Diese führen Daten praktikabel zusammen. „Wir brauchen kein großes standardisiertes Informationsmodell, das bekommen wir sowieso nicht gepflegt“, ist Schüller überzeugt. Viele kleine Modelle seien vielversprechender.

Problematisch ist, dass diese Modelle gefährdet sind. Wenn im Betrieb gespart wird, ist schon die einstündige Pflege eines Modelles zu viel. Hinzu kommt, dass die strikte Trennung von OPEX und CAPEX die Einführung neuer Informationsmodelle erschwert. „Wir haben eigentlich keinen im Anlagenbau, der Interesse an der Digitalisierung hat“, so das Fazit von Schüller. „Wir müssen daher Wege finden, trotzdem diese Modelle zum Fliegen zu bekommen.“

Und Sponsor der Namur-Hauptsitzung 2020 ist …

Zum Abschluss der Hauptsitzung stellte Hanisch die Aufgaben und Strategien der Namur für 2020 vor. So soll u.a. eine neue Arbeitsgruppe gegründet werden, die sich mit der IT/OT-Konvergenz beschäftigt. Zudem sollen neue Formen der Zusammenarbeit ausprobiert werden, um Themen schneller voran zu treiben. Es bleibt also viel zu tun bis zur nächsten Namur-Hauptsitzung. Am 5./6. November 2020 will man gemeinsam mit dem Sponsor Schneider Electric den richtigen „Booster“ finden, um das Thema Digitalisierung ‒ endlich ‒ zum Fliegen zu bekommen. Getreu dem nächsten Motto: „Boosting your Asset Lifecycle for Power and Process“. Denn nach der Namur-Hauptsitzung ist vor der Namur-Hauptsitzung …

* Die Autorin ist freie Mitarbeiterin bei PROCESS.

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