Namur-Hauptsitzung 2014 Herausforderung Modularisierung – Mit Intelligenz punkten

Autor / Redakteur: Sabine Mühlenkamp / Wolfgang Ernhofer

Wie in jedem Jahr gelangte die Namur-Tagung auch in diesem Jahr wieder an ihre Grenzen. Mit 570 Teilnehmern war sie bis auf den letzten Platz ausgereizt. Mittelpunkt der diesjährigen Hauptsitzung der Anwender von Automatisierungstechnologien in der Prozessindustrie waren die Herausforderungen, die sich durch die Modularisierung von Prozessanlagen ergeben.

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Auf der Namur-Hauptsitzung in Bad Neuenahr trifft sich die deutschsprachige Automatisierungsbranche und sucht gemeinsam nach Lösungen für aktuelle Probleme und die Zukunft.
Auf der Namur-Hauptsitzung in Bad Neuenahr trifft sich die deutschsprachige Automatisierungsbranche und sucht gemeinsam nach Lösungen für aktuelle Probleme und die Zukunft.
(Bild: Mühlenkamp / PROCESS)

Bad Neuenahr – Wie gehen die Anwender mit der zunehmenden Intelligenz um? „Ich traue mich nicht zu sagen, dass früher alles besser war, aber vieles war einfacher“, stellte Dr. Thomas Tauchnitz, Sanofi, zu Beginn der zweitägigen Veranstaltung in Bad Neuenahr fest. Es gibt inzwischen intelligente Feldgeräte und dank des Feldbusses können diese auch genutzt werden. Die Automatisierungswelt ist inhomogen geworden. So gibt es kaum noch eine Maschine, die ohne eigene Intelligenz auskommt. Eine echte Wahl hat der Anwender also nicht, vielmehr muss er einen Weg finden, wie er damit umgeht.

Ebenfalls ein Fakt: Die Anlagen, die erhöhte Anforderungen an die Flexibilität stellen, werden immer mehr. Bisherige Produktionsanlagen in der Prozessindustrie sind auf Grund ihrer festen Strukturen zu inflexibel, um auf sich schneller ändernde Marktgegebenheiten reagieren zu können. Daher werden diese zunehmend in eine modulare Anlagenstruktur gewandelt. Aktuelle Prozessleitsysteme sind jedoch nicht in der Lage auf diese Modularisierung zu reagieren. Sie sind nach wie vor zentralistisch mit herstellerspezifischen Schnittstellen aufgebaut. Modulare Anlagen benötigen jedoch eine modulare Automation, die sich auf die Modulautomation in der Feldebene und eine modulare Leitebene mit Visualisierung, Prozedursteuerung, Diagnose und Engineering aufteilt.

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Flexible Produktion erfordert modularen Anlagenbau

Es müssen also neue Konzepte gefunden werden, um diesen Anforderungen Schritt zu halten. Einen Weg dazu beschrieb der diesjährige Sponsor Wago in seinem Vortrag: „Die Namur hat vor vier Jahren eine weise Entscheidung getroffen, indem sie das Thema zum Hauptthema ernannt hat“, lobte Ulrich Hempen, verantwortlich für das Marketing bei Wago, der die Vorreiterrolle der Chemie betonte. „Die Chemieindustrie ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Branche, weil sie letztendlich alle Produkte unseres täglichen Lebens produziert“.

Allerdings fordern Globalisierung und Individualisierung ihren Tribut. Die Prozessindustrie wird mit schwankenden Absatzmengen aber auch mit kürzeren Produktlebenszyklen leben müssen. Auch die Zeit, bis das Produkt auf den Markt kommt, wird immer kürzer. Produktionsverlagerungen kommen dazu. Diese erfordern eine flexible Produktion, die wiederum einen modularen Anlagenbau erfordert.

Wie muss ein Modul aussehen?

Ein modularer Anlagenbau bedingt eine modulare Automation. Vor drei Jahren hat Wago daraufhin ein Projekt gestartet. „Wir wollten eine Methodik entwickeln, wie wir mit den Anforderungen der Modularität umgehen“, so Hempen. Sechs Bausteine umfasste das neue Konzept, angefangen von der Frage, wie solche Module aussehen müssen. So gehörten für Wago die eigene Integrität des Moduls, der Schutz vor Bedienfehlern, die Wirtschaftlichkeit und die Unabhängigkeit dazu. Aber auch die Schnittstellen, der Know-how-Schutz, ein einheitliches Look und Feel des Prozesses, die Prozessintegration sowie die Sicherheit sind Fragen, mit denen sich Hersteller und Anwender auseinander setzen müssen.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. So stellte Wago als Antwort auf diese Anforderungen in Bad Neuenahr das Konzept Dima, „Dezentrale Intelligenz für modulare Anlagen“, erstmalig vor. Dies wurde unter Beachtung der Anforderungen aus der Namur Empfehlung NE 148 entwickelt.

Module als autarke Einheiten

Dabei sind die einzelnen Module der Prozessanlage autarke Einheiten, die durch ihre implementierte Automationseinheit den eigenen Prozess vollständig abarbeiten. Die Schnittstelle der Module zur überlagerten Leitebene basiert auf neutral beschriebenen Diensten. Dienste beinhalten eine neutrale, offene Semantik die im Modul einen definierten Ablaufprozess auslöst, bzw. auf Anforderung eine definierte Rückmeldung gibt. Diese Dienste sind herstellerunabhängig definiert und dienen zur Ansteuerung durch z.B. Prozedursteuerungen oder Rezeptprogramme. Die Visualisierung wird ebenfalls über eine neutrale Diensteschnittstelle ausgelesen. Dima bedient sich dabei einer abstrakten Beschreibung des HMIs. Beim Anlagenengineering müssen die Funktionen der Module der überlagerten Leitebene wie HMI und Prozedursteuerungen bekannt gemacht werden.

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Die zur Integration erforderlichen Informationen befinden sich in der „Modul Typ Package“ (MTP). In diesem Modulbeschreibungsmodell werden alle notwendigen Informationen des Prozessmoduls zur anwenderunabhängigen Integration in die überlagerte Leitebene integriert basierend auf OPC-Technologie. Dazu gehören Kommunikationsparamater, Dienste, Statusinfos, Diagnose, Historie oder die Archivierung.

In der Praxis funktioniert Dima bereits mit dem Engineering-System E!Cockpit von Wago, wobei Dr. Thomas Albers unmissverständlich klarstellte: „Wir wollen hier keine wagospezifische Technologie anbieten, sondern an offene Systeme anknüpfen.“ Daher ist Wago bereit, das Konzept Dima zur Nutzung und Weiterentwicklung einem definierten Anwenderkreis mit Unterstützung der Namur zur Verfügung zu stellen. „Aber die Anwender müssen diese Idee mit vorantreiben“, forderte Albers.

Verschmelzen von Automatisierung und IT

Dass die Umsetzung neuer Ideen nur im Spannungsfeld Automatisierung, IT und Industrie 4.0 funktioniert, machte Dr. Michael Krauß von der BASF und dem Namur AK2.1 PLS und SPS deutlich: „Der Wunsch ist klar, die Automatisierung soll zur Optimierung der Automatisierung beitragen, aber dazu benötigen wir moderne IT-Methoden. „Ich möchte eine Lanze für Industrie 4.0 brechen“ so Krauß. „Trotz allen Hypes um dieses Thema zwingt es uns dazu, etwa bei der vertikalen und horizontalen Integration von Daten neu nachzudenken.“ Dabei sieht Krauß vor allem die Production IT als Enabler für neue Lösungen. So sind etwa Rechenleistung und Datenübertragungsdaten gestiegen, ohne die eine Online-Optimierung oder neue Lösungen bei der Ferndiagnose nicht möglich wären. Und dabei geht es nicht nur um Datenmengen, sondern auch um die Methodik, wie man solche Daten verarbeitet. Schließlich ist der Sprung vom Röhrenrechner zur SPS nur durch Synergien bei großen IT-Unternehmen möglich gewesen, obwohl diese sicher nicht vorrangig die Prozessautomatisierung im Blick hatten.

Daher lautet seine Forderung: „Wir brauchen eine stärkere Verschmelzung von IT und Automatisierung. Wir sind bei der Integration bereits weit gekommen. Und ich wage mal zu behaupten, dass wir selbst Windows erfolgreich integriert haben“, fügte Krauß scherzhaft hinzu. Dabei betonte er die Notwendigkeit des Umdenkens, dass man auch Methoden annehmen muss, die bisher in der Prozessautomatisierung fremd waren. Zu groß ist die Marktmacht der kommerziellen IT. Schließlich macht Process Control nur 1 % der IT aus. „Die Automatisierung ist Trittbrettfahrer der IT und nicht umgekehrt.“ Für Krauß ist auch die Idee eines Leitsystems in der Cloud zu offensichtlich, um mittelfristig nicht umsetzbar.

Modularität – längst gelebte Praxis

Der Sprung von der Cloud in die Realität gelang Andreas Schadt, Spiratec, der mit einigen Beispielen belegte, dass modulare Prozesstechnologie schon längst gelebte Praxis ist. Während in der Chemieindustrie dezentrale Intelligenz nur in den Nebenanlagen vorhanden ist, ist sie in der Pharmaindustrie längst in den Hauptprozessen angekommen. „Mehr noch: In der Biotechnologie sind viele dieser Einheiten bereits mobil und werden nach Gebrauch sogar weggeworfen“, so Schadt.

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Die Realität in der Chemie ist jedoch eine andere: Zwar gibt es viele Module mit eigener Steuerung, aber der Aufwand ist so hoch, dass man sich in vielen Fällen dafür entscheidet, die Steuerung nicht zu verwenden, weil es keine Standardisierung gibt und der Aufwand zu hoch ist. Die Kopplung von Funktionseinheiten ans PLS ist insbesondere für den Mittelstand eine große Herausforderung. „Diese Vorgehensweise funktioniert zwar irgendwie, aber es ist sehr mühsam und aufwändig“, so die Erfahrung von Schadt. Er forderte, die in der IEC 61512 (SP88) vorhandenen Lösungen und Standards zu nutzen, um bei der Modularisierung voran zu kommen.

Dagegen werden in den Branchen Chemie, Pharma und Nahrungs-/Genussmittel sogenannte Package Units (PU´s) mit eigener Steuerung bereits in verschiedenartiger Ausprägung als Module eingesetzt. „Es gibt inzwischen Projekte, wobei 50 bis 70 % über dezentrale Systeme abgedeckt sind und wo es kein Leitsystem im eigentlichen Sinne mehr gibt. Das Batchsystem wird zum Koordinationssystem, welches Equipment bzw. Module mit dezentraler Intelligenz steuert“, so Schadt. Umgekehrt heißt das: Das klassisch monolithische Prozessleitsystem wird dabei aufgetrennt und verschiedene Steuerungen unterschiedlicher Lieferanten bilden den gesamten Herstellungsprozess in entsprechender Zusammenschaltung ab.

Namur-Datencontainer – es ist vollbracht!

Nicht nur bei modularen Anlagen ist dabei die Frage entscheidend, wie bekomme ich schnell und vor allem fehlerfrei Daten von einem System ins andere? Es werden immer wieder in der Engineering-Phase, aber auch während des Betriebs von Anlagen eine Vielzahl von elektronischen Systemen verwendet, beispielsweise für Erstellung und Pflege von R&I-Schemata, PLT-Stellen, Rohrleitungen sowie PLS-Software. Um diesen Datentransfer dauerhaft und zwischen allen Werkzeugen zu ermöglichen, sind standardisierte Schnittstellen erforderlich. Eine mögliche Antwort darauf gab Dr. Thomas Tauchnitz in seinem Vortrag. Bereits auf der Hauptsitzung 2013 wurde ein Ansatz vorgestellt, mit dem eine solche Standardisierung schnell, schrittweise, objektorientiert und kooperativ erreicht kann. Das Stichwort hieß „Namur-Datencontainer“.

Als erster Schritt wurde nun das Objekt „PLT-Stelle“ definiert und umgesetzt. Um den kooperativen Ansatz zu realisieren, wurde der GMA-Fachausschuss 6.16 „Integriertes Engineering in der Prozesstechnik“ gegründet. Fast alle relevanten Unternehmen sind darin engagiert: Hersteller von CAE-Systemen, Hersteller von Automatisierungssystemen, Namur-Mitgliedsfirmen, Verbände und Universitäten. „Durch häufige Sitzungen und hohes Engagement der Beteiligten wurde innerhalb eines Jahres ein Ergebnis erzielt, mit dem die Eignung der Schnittstelle demonstriert werden kann“, berichtete Tauchnitz und zeigte an einem Beispiel, dass sich CAE-Daten tatsächlich vom System eines Herstellers in ein System eines anderen Herstellers schieben lassen. Basis für das Konzept war der Entwurf der Namur-Empfehlung NE 150 „Standardisierte Namur-Schnittstelle zum Austausch von Engineering-Daten zwischen CAE-System und PCS-Engineering-Werkzeugen“.

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Anhand von aus dem Projektgeschäft entnommenen Excel-Transferlisten wurde geprüft, welche Signale in der Branche üblicherweise ausgetauscht werden. Es wurden weitere Signale ergänzt und Festlegungen für die physikalischen Größen definiert. Als Sprache wurde Englisch festgelegt, allerdings können zusätzlich landesspezifische Sprachen verwendet werden. Neben der Festlegung der zu übertragenden Daten war auch ein Datenformat auszuwählen. Reine XML-Files sind zwar allgemein verständlich, haben aber keine Objekt- und Bibliothekskonzepte.

Das im GMA-Fachausschuss erstellte Datenmodell wurde manuell in Automation ML als Bibliothek mit ihren Klassen und Attributen angelegt. Die PLT-Stellen eines kleinen R&I-Schemas wurden in Automation ML angelegt.

Pilotprojekte bei Bayer

Sieben der im Fachausschuss mitarbeitenden Firmen haben rechtzeitig zur Namur-Hauptsitzung Demonstratoren für den Import und Export der PLT-Stellen erstellt. Sie gaben den Aufwand im Bereich weniger Tage bis maximal zwei Wochen an. Als nächsten Schritt strebt der Fachausschuss die Beschreibung des Objekts „Ablaufkette“ (SFC) an. Die Forderung von Tauchnitz und seinem Arbeitskreis lautet nun, das Modell auch anzubringen und den CAE-Verantwortlichen explizit darauf anzusprechen. Bei Bayer sind bereits zwei Pilotprojekte angedacht, man darf gespannt sein, ob auf der nächsten Namur-Hauptsitzung, nicht mehr nur über Demonstratoren gesprochen wird, sondern bereits über erste Erfahrungen. Abgerundet wurde der erste Tag der Sitzung mit zahlreichen Workshops und natürlich einem intensiven Networking, wo über die zukünftige Rolle der Automatisierung in der Prozessindustrie diskutiert wurde.

Weitere Informationen zu DIMA – Dezentrale Intelligenz für modulare Anlagen finden sie auf www.dima-process.com.

* Die Autorin ist freie Mitarbeiterin der PROCESS. Kontakt: redaktion@process.de

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