Chemie bezieht Stellung Das bedeutet die EU-Chemikalienstrategie für die Industrie: Verbände beziehen Stellung

Von Dominik Stephan |

Mit der im Oktober 2020 vorgestellten Chemikalienstrategie stellt die EU die europäische Chemieindustrie an einen Scheideweg – so zumindest sehen es die Branchenverbände. Ein Netto-Marktverlust im zweistelligen Prozentbereich sei unvermeidlich. Ob am Ende technologiegetriebenes Wachstum oder ein schmerzhafter Schrumpfungsprozess stünde, werde jetzt entschieden.

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Kreislaufwirtschaft und Co klappen nur gemeinsam: Die Chemie ist häufig nur ein einzelner Schritt in sehr komplexen Wertschöpfungsketten – Aber ein entscheidender.
Kreislaufwirtschaft und Co klappen nur gemeinsam: Die Chemie ist häufig nur ein einzelner Schritt in sehr komplexen Wertschöpfungsketten – Aber ein entscheidender.
(Bild: VCI)

Frankfurt – Für 12.000 chemische Stoffe ändern sich wesentliche Gesetze, Zulassungen und Bestimmungen: Zu diesem Ergebnis kommt die erste einer Reihe von Studien des unabhängigen Wirtschaftsforschungsunternehmens Ricardo Energy & Environment über die wirtschaftlichen und betrieblichen Auswirkungen der EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit (Chemicals Strategy for Sustainability, CSS) aus dem Oktober 2020. Die diese Stoffe könnten dabei bis zu 43 Prozent des Gesamtumsatzes der europäischen chemischen Industrie ausmachen, was 214 Milliarden Euro entspricht.

Selbstverständlich will die Chemie mit am Tisch sitzen, stehen doch wichtige und weitreichende Reformen unmittelbar bevor: Ein Gesetzgebungsverfahren zur Änderung der CLP-Verordnung (Regulation on Classification, Labelling and Packaging of Substances and Mixtures) soll Mitte nächsten Jahres beginnen. Mit Vorschlägen zur Änderung der REACH-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) ist ab Ende 2022 zu rechnen. Entsprechend richten sich Branchenvertreter in einem dringenden Appell an die Europäische Kommission, gemeinsam einen Transformationspfad für die europäische Chemieindustrie zu entwickeln, der massive Investitionen unterstützt, um die Ziele des europäischen Green Deals zu erreichen.

,,Die Ergebnisse der ersten einer Reihe von Berichten zeigen, dass wir vor einer enormen Herausforderung stehen," meint Cefic-Präsident Dr. Martin Brudermüller. "Um unsere Industrie in die Lage zu versetzen, diesen Wandel zu vollziehen, braucht sie einen klaren Transformationspfad. Ich rufe die europäischen Politiker und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten dazu auf, mit uns zusammenzuarbeiten und die CSS in eine echte Wachstums- und Innovationsstrategie umzuwandeln.“

Es geht um mehr als die Chemie

Die Macher der Studie haben auch die zur Diskussion stehende technische Definitionen und Kriterien aus der CSS ins Auge gefasst: Hier zeigte sich, dass das am wahrscheinlichsten betroffene Produktportfolio immerhin noch bis zu 28 Prozent des geschätzten Umsatzes der Branche ausmachen wird, so die Autoren. Die befragten Unternehmen gaben an, dass etwa ein Drittel dieses höchstwahrscheinlich betroffenen Portfolios von 28 Prozent potenziell substituiert oder umformuliert werden könnte. Inwieweit die Unternehmen in der Lage sind, potenziell betroffene Produkte zu ersetzen, hängt jedoch weitgehend von den Einzelheiten der bevorstehenden Verordnungen ab. Außerdem kommt es darauf an, was technisch und wirtschaftlich machbar ist, und wie die Kunden auf die Ersatzstoffe oder neu formulierte Produkte reagieren werden. Die am stärksten betroffenen nachgeschalteten Sektoren werden voraussichtlich Klebstoffe und Dichtstoffe, Farben sowie Wasch- und Reinigungsmittel sein.

Das betrifft natürlich nicht nur die Chemie, sondern alle nachgeschalteten Wertschöpfungsketten is hinunter zum Verbraucher, so Brudermüller: ,,Die Rolle der chemischen Industrie besteht darin, nachgeschaltete Kunden mit notwendigen Rohstoffen und Produkten zu versorgen, um die Ziele des Green Deals zu erreichen. Die chemische Industrie in der EU ist ein wichtiger Zulieferer für alle verarbeitenden Industrien und für wichtige und strategische Wertschöpfungsketten, einschließlich Pharmazeutika, Elektronik, Batterien für Elektrofahrzeuge und Baumaterialien. Die beabsichtigten Strategieänderungen, die mit der CSS einhergehen, werden auch einen erheblichen ,,Rückkopplungseffekt" auf viele Wertschöpfungsketten haben, die auf Chemikalien angewiesen sind."

Kann der Wandel gelingen?

Die wirtschaftliche Folgenabschätzung kam zu dem Schluss, dass die bevorstehende Chemikaliengesetzgebung selbst bei der Anpassung verschiedener Studienparameter erhebliche Auswirkungen haben wird. Unabhängig vom gewählten Szenario wird die Umsetzung der Chemikalienstrategie zu einen europäische Chemieindustriet von mindestens 12 Prozent des Branchenumsatzes bis 2040 nach sich ziehen. Da bisher nur zwei der in der CSS vorgeschlagenen Maßnahmen bewertet wurden, werden die kumulativen Auswirkungen aller weiterer in der Strategie angedachten Änderungen noch größer sein. Zudem wurden die Wirkung dieser Maßnahmen auf die europäischen Chemikalienexporte bisher nicht untersucht. Dieser Bereich könnte die Gesamtauswirkungen aber noch erheblich verstärken.

Jetzt sei die Politik gefordert, betont Brudermüller, nicht nur als Präsident des Cefic sondern auch als CEO der BASF: ,,Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass eine branchenweite Substitutionsanstrengung grundsätzlich möglich wäre. Die Ziele der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit scheinen somit prinzipiell erreichbar. Es besteht jedoch große Unsicherheit darüber, wie die Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette dies unter den derzeitigen Rahmenbedingungen erreichen können. Die Industrie braucht Vorhersehbarkeit für wirtschaftliche Investitionen in den kommenden zwei Jahrzehnten. Damit wir die vielen Herausforderungen des Green Deals meistern können, brauchen wir einen soliden Übergangsrahmen für die chemische Industrie.“

Was in Sachen REACH zu tun ist

Der vorgeschlagene Übergangsrahmen sollte Zeitpläne und Maßnahmen für die Industrie zur Entwicklung von Ersatzstoffen enthalten und sich auf die Produkte konzentrieren, für die diese Ersatzstoffe zuerst verfügbar sein können. Dabei sollte er auf bewährten und etablierten Ansätzen wie der Risikobewertung im Rahmen von REACH aufbauen. Es werden Anreize benötigt, um Märkte für diese neuen Chemikalien zu schaffen, kombiniert mit einer verstärkten Kontrolle der REACH- und der Produktsicherheitsvorschriften für Importe. Das Paket sollte durch eine starke Innovationsagenda ergänzt werden, um die Entwicklung von sicheren und nachhaltigen Alternativen zu beschleunigen. Schließlich sollte der Transformationspfad auch die drei anderen Herausforderungen berücksichtigen, die die chemische Industrie meistern muss: Klimaneutralität, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft.

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