Industrial Ethernet Braucht die Prozessindustrie das Ethernet?

Autor / Redakteur: Sabine Mühlenkamp / Dr. Jörg Kempf

Ob Interkama, Podiumsdiskussionen oder Pressemeldungen – es scheint, als wäre das Thema Ethernet endlich in der Prozessindustrie angekommen. Allerdings lohnt es sich, genauer hin zu schauen, wo Industrial Ethernet wirklich eingesetzt wird. So sind längst nicht alle Bereiche für diese Technologie bereit.

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Ganz klar, Ethernet ist derzeit eins der Trendthemen in der Prozessindustrie. So neu ist die Technologie nicht, immerhin ist sie seit rund 20 Jahren in der Fertigungsindustrie eingeführt. Das derzeitige Interesse der Prozesswelt hängt vor allem an der Tatsache, dass sich mit Ethernet eine Durchgängigkeit zur Unternehmensleitebene schaffen lässt. Weitere Vorteile, wie die Erweiterung der Topologien, die Übertragung von größeren Datenmengen und eine höhere Leistung, tun ein Übriges. Die entscheidende Frage ist jedoch, an welchen Stellen einer Anlage Industrial Ethernet eingesetzt wird.

„Der Einsatz von Ethernet beschränkt sich bisher auf die Kommunikation der Leitsysteme untereinander und zur Unternehmensleitebene“, erklärt Dr. Peter Wenzel, Geschäftsführer der Profibus Nutzerorganisation e.V. (PNO). In der Kommunikation zwischen Leitsystemen, MES, Package Units, HMI-Kommunikation und ähnlichem sind die proprietären Systeme der Vergangenheit weitgehend durch Ethernet abgelöst worden. „Dies ermöglicht eine herstellerunabhängige Kommunikation zwischen den Systemen“, zieht Dr. Hasso Drathen, Geschäftsführer der Namur, eine positive Bilanz.

In vielen Bereichen wird daher der Einsatz von Ethernet weiter fortschreiten: „Prozesstechnische Anlagen verfügen in den meisten Fällen über Teile, bei denen diskrete Ein- und Ausgangssignale dominieren und vorwiegend Komponenten der Fertigungstechnik Einsatz finden“, führt Wenzel aus. „Typische Beispiele solcher Anlagenteile sind Einrichtungen zur Bevorratung und Lagerung von Rohmaterialien, Verpackungs-, Befüllungs- oder Palettierungsprozesse für die Endprodukte sowie Transporteinrichtungen mit ihren Antriebs- und Steuerungskomponenten. Technische Neu- und Weiterentwicklungen dieser Komponenten können kurzfristig mit einer Ethernetschnittstelle, beispielsweise mit Profinet, ausgestattet werden.“

Blick ins Feld

Der Mittelpunkt der Prozessindustrie ist jedoch der verfahrenstechnische Produktionsprozess. Und für diesen Bereich findet Drathen, als Sprachrohr der Anwender, deutliche Worte: „Eine Anwendung im Feld sehe ich in absehbarer Zeit für Ethernet nicht.“

Beim Einsatz in Bereichen, in denen Profibus PA und FF ihre Aufgaben gefunden haben, existiert für Ethernet schlichtweg noch kein Konzept. „An dieser Stelle im Prozess im Feld haben sich Komponenten etabliert, die über eine energiebegrenzte Busspeisung verfügen, etwa Profibus PA“, beschreibt Wenzel die derzeitige Situation. „Moderne Industrial Ethernet-Systeme wie Profinet können in die Anlagenteile mit diskreter Automatisierung kurzfristig Einzug halten, die verfahrenstechnischen Anlagenteile bleiben jedoch mangels geeigneter technischer Lösungen auf längere Sicht den Feldbussen wie Profibus PA vorbehalten.“

Generell stellt sich die Frage, ob die Feldebene überhaupt Ethernet benötigt. „Einem breiten Einsatz von Ethernet in Feldgeräten stehen einerseits die zurzeit hohen Kosten für die Ankopplung und ein vergleichsweise geringes Datenvolumen je Feldgerät bei moderaten Reaktionszeiten gegenüber, welche die hohe Bandbreite eines Ethernet nicht erfordern“, macht etwa Andreas Hennecke, Product Marketing Manager Fieldbus Technology, FieldConnex bei Pepperl&Fuchs deutlich. Seiner Meinung nach sind zunächst zwei substanzielle Aufgaben zu lösen: „Die Energieversorgung der Feldgeräte und der Explosionsschutz: Heutige Feldbustechnologie wie Foundation Fieldbus H1 oder Profibus PA realisieren Energieversorgung und Kommunikation über ein gemeinsames Kabel, auch zur Reduzierung des Installationsaufwands. Zudem müssen Feldgeräte auch im laufenden Betrieb der Anlage gewartet werden. Hierzu muss man in der Lage sein, Stromkreise ohne Feuerschein zu öffnen. Hier bietet die Feldbustechnik bereits ausgereifte Lösungen an.“

Anforderungen an den Explosionsschutz berücksichtigen

Ernst Jäger, Sales Manager Asset Optimization bei Emerson Process Management hält grundsätzlich alle Anwendungen, die über ein Kommunikationsprotokoll verfügen, für den Einsatz von Ethernet geeignet, sofern die Anforderungen an den Explosionsschutz und die Installationskosten berücksichtigt werden. „Wir setzen diese bereits seit 1996 in der Prozessleittechnik ein. Die Herausforderungen liegen eher im Bereich der Normung, da diese Interoperabilität zwischen Geräten, Hostsystemen und Applikationen definieren sollte“, gibt Jäger zu bedenken und ergänzt: „Eine breite Marktakzeptanz wird nur dann erreicht, wenn die Technik einfach anzuwenden ist und die wesentlichen Aspekte der Instandhaltung berücksichtigt werden.“ Oder anders ausgedrückt: „Die Einführung einer Technologie macht keinen Sinn, wenn die Kosten für Installation und Schaffung der erforderlichen Infrastruktur kommerziell nicht attraktiv sind.“

Diese Ansicht teilt Drathen, der neben Fragen der Sicherheit (Ex-Schutz, IT-Sicherheit und SIL-Anforderungen) und Verfügbarkeit vor allem die Wirtschaftlichkeit als kritisch einschätzt. „Mit den etablierten Feldbussystemen PA und FF sowie Hart-Kommunikation existieren gut funktionierende Systeme. Ethernet bietet hier keinen Mehrwert und keine Kostenreduktion der Feldgeräte, sondern hat nur den Nachteil einer noch höheren Ersatzteilhaltung“, rechnet Drathen vor.

Leichtere Integration

Wenzel spricht daher auch nicht von einem Ersatz der heutigen Systeme, sondern setzt auf Integration: „Die Einführung von Ethernet-basierter Kommunikation in der Feldebene wird die heute in verfahrenstechnischen Anlagen vorhandenen Feldbusse wie Profibus PA in Zukunft nicht ersetzen, sondern sie nahtlos integrieren.“ Bei der Entwicklung von Profinet wurde hierbei mit dem Proxy-Konzept ein besonderes Augenmerk gesetzt. Im Vordergrund stand der Investitionsschutz der Anwender. So wird sichergestellt, dass ein Wechsel in die Ethernet-Welt ganz oder teilweise möglich ist, ohne die getätigten Investitionen zu gefährden.

„Vor einer breiten Einführung von Profinet in die verfahrenstechnischen Applikationen der Prozessindustrie müssen erst einmal zentrale Fragen geklärt werden, z.B. die der Geräteintegration, Wartung und Diagnose, Konfigurationsänderungen oder hochverfügbare Systemarchitekturen“, zählt Wenzel die weiteren Hausaufgaben auf. „So werden beispielsweise Themen wie Systemredundanz, Zeitsynchronisation und -stempelung sowie das Engineering die besonderen Herausforderungen für die PNO-Arbeitskreise in den nächsten zwei bis drei Jahren sein“, ergänzt Dr. Röhl, Leiter des Geschäftszweigs Industrielle Kommunikation bei Siemens Automation and Drives (A&D), Nürnberg. „Parallel dazu werden Profibus-Profile wie „RIO for Process Control“, „Weighing and Dosage Devices“, „Intelligent Pumps“ oder „Lab Devices“ für den Einsatz unter Profinet erweitert. Über entsprechende Netzwerkübergänge zum den gängigen PA-Feldbussen kann heute schon die „PA-Welt“ an Industrial Ethernet angebunden werden und die Vorteile können heute schon entsprechend genutzt werden.“ Zieltermin für den Abschluss aller notwendigen Arbeiten ist Ende 2008.

Umsetzung in die Praxis

Trotzdem ist das Interesse der Prozessanwender an dem Thema groß, wie André Fritsch, Produktmanager Remote I/O & Feldbustechnik-Technik bei R. Stahl, anmerkt: „Viele Anwender informieren sich über die Möglichkeiten und Chancen, aber auch die Risiken von Industrial Ethernet“, berichtet er über seine bisherigen Erfahrungen. Seiner Meinung nach wird Industrial Ethernet zwar einige Jahre nach der Fertigungsindustrie eingeführt, aber: „Wir gehen davon aus, dass erste Pilotanlagen in Kürze in Betrieb genommen werden.“

Abgesehen vom Einsatz im Feld eröffnen sich dennoch für Ethernet interessante Anwendungsfelder. „Aufwändige Mess- und Analysetechnik einerseits, und vollständig vorinstallierte Anlagenteile andererseits könnten die Grundlage für eine integrierte Ethernetanbindung darstellen“, zählt Hennecke ein Beispiel auf. „Das eigensichere Ethernet, dass mithilfe von neuen Ethernet-Isolatoren aufgebaut werden kann, ist besonders für mobil einsetzbare Maschinen und Apparate oder temporäre Installationen geeignet.“ Auch dort, wo Kabelbruch ein erhöhtes Risiko darstellt, sind neue Lösungen denkbar.

Investitionszyklen der einzelnen Branchen als Taktgeber

Da die Prozessindustrie keine homogene Branche ist und die einzelnen Branchen teilweise extrem unterschiedliche Anforderungen und unterschiedliches Investitionsverhalten haben, wird sich die Etablierung von Industrial Ethernet in der Prozessindustrie an den Investitionszyklen der einzelnen Branchen ausrichten. „Die Öl- und Gas-Branche beispielsweise denkt in Zyklen von bis zu 20 Jahren und wird demzufolge eher weniger der Treiber für Ethernet in der Prozessindustrie sein“, macht Röhl deutlich. „Manche Artikel der Nahrungs- und Genussmittelindustrie wie Joghurt oder Kosmetika werden hingegen teilweise in Jahreszyklen neu aufgelegt, was häufig auch eine Anpassung der Produktionsanlagen erfordert. In diesen Branchen hat sich Industrial Ethernet daher bereits etabliert.“

Für Fritsch liegt das Potenzial vor allem in Hybridprozessen, also bei gleichzeitiger Anwendung von Feldbus (FF H1 oder Profibus PA) und konventioneller Feldgerätetechnik, z.B. Remote I/O-Systeme mit Industrial Ethernet Kommunikation – sei es Profinet oder FF HSE. Für ihn sind die chemische Industrie, Petrochemie, Oil&Gas und Pharma typische Anwender für leistungsfähige Bussysteme, die auch in explosionsgefährdeten Bereichen einsetzbar sein müssen. „Applikationen, in denen große Datenmengen in kurzer Zeit ausgetauscht werden müssen, sind prädestiniert für Industrial Ethernet. Insbesondere, wenn Anbindungen an ERP- oder Asset Management-Systeme gefordert sind.“

Fazit

Industrial Ethernet wird in die Prozessautomatisierung einziehen, allerdings noch nicht in den klassischen Feldbereich. Hier sind derzeit die Anwender zufrieden mit den vorhandenen Bussen, wie PA, FF oder Hart. Allgemein wird sich Industrial Ethernet mit den üblichen Anforderungen der Prozessindustrie, wie Sicherheit, Verfügbarkeit von Anlagen und Wirtschaftlichkeit auseinander setzen müssen.

Zentrale Frage der Anwender ist hier: „Welchen Mehrwert haben wir von Ethernet?“ Trotzdem, da sich die beiden größten Feldbus-Organisationen, Profibus International und die Fieldbus Foundation intensiv mit dem Thema Industrial Ethernet für die Prozessautomatisierung beschäftigen und in Arbeitsgruppen an angepassten Lösungen arbeiten, wird der Einsatz nicht mehr lange auf sich warten lassen.

„Sobald auch die breite Unterstützung durch Automatisierungssysteme gegeben ist, wo es ja heute auch noch dran mangelt, wird der Einsatz in der Praxis schnell folgen“, ist Fritsch überzeugt. „Wir gehen davon aus, dass ab 2009 Industrial Ethernet kein In-Thema, sondern breit einsetzbare Technologie sein wird.“ Ganz sicher wird dies in den oberen Ebenen der Fall sein. „In der Prozessindustrie wird die durchgängige Kommunikation vom Feldbereich über die DCS-Systeme bis zu den unternehmensweiten Informationssystemen wie MES und ERP den Anwendern einen erheblichen Zusatznutzen bieten“, ist Röhl überzeugt. „Da Ethernet bereits heute einen hohen Anteil bei den vor- und nachgelagerten Automatisierungsaufgaben inne hat, sehen wir sehr gute Chancen, Industrial Ethernet auch in der Prozessindustrie erfolgreich einzusetzen.“

An diesem Punkt sind auch die Anwender mit von der Partie und vom Nutzen des Ethernet überzeugt, wie Drathen bestätigt: „Im Bereich SPS, PLS, MES, d.h. der Kommunikation zwischen den Systemen, wird sich Industrial Ethernet weiter ausbreiten.“

Die Autorin ist freie Mitarbeiterin bei PROCESS.

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