Multiple Trennwandkolonne Besser wird’s nicht: So gelingt die Destillation am thermodynamischen Optimum

Von Dominik Stephan

Ein Forscherteam in Ulm arbeitet an der Destillationsanlage der Zukunft – Kann ein 5000 Jahre altes Verfahren noch verbessert werden? Die multiple Trennwandkolonne könnte Mehrstoffgemische in einem einzigen Apparat trennen und so Investitions- und Energiekosten senken. Doch bisher blieb das komplexe Verfahren ein Wunschtraum der Entwickler. Das könnte sich jetzt ändern: Die erste Anlage weltweit wurde in Betrieb genommen und soll dem thermodynamischen Optimum so nahe wie möglich kommen.

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Sie ist fast zehn Meter hoch und erstreckt sich über drei Etagen: Im neuen Technikum der Universität Ulm steht die erste Multiple Trennwandkolonne der Welt.
Sie ist fast zehn Meter hoch und erstreckt sich über drei Etagen: Im neuen Technikum der Universität Ulm steht die erste Multiple Trennwandkolonne der Welt.
(Bild: Eberhardt, kiz Universität Ulm)

Schon Ötzis Zeitgenossen in der Jungsteinzeit waren, kaum dass sie das Feuer gezähmt hatten, fleißig am Kokeln: Pech und Teer, später ätherische Öle wurden schon früh mit einfachen Destillationsgefäßen aus Ton gewonnen. Die alten Araber kannten die Destillation des von ihnen Naft genannten Rohöls und entwickelten den Alembik genannten Destillierhelm, der die Destillation von Alkohol erlaubte. Ab dann ging es Schlag auf Schlag: Kaum ein mittelalterliches Alchemistenzimmer, in dem nicht ein Destillierkolben vor sich hin köchelte. Spätestens mit der Gewinnung der zahllosen Kohlenwasserstoffe wurde das Trennen durch Verdampfen zur Grundlage der Wertschöpfungsketten in Chemie, Pharma und Energiewirtschaft.

Die Destillation gehört zu den ältesten thermischen Trennverfahren der Menschheit. Heute bilden haushohe Kolonnen und Cracker den Kern großer Chemiestandorte und prägen das Bild der der Industrie. Und auch, wenn im Zuge der Defossilierung die Branche über alternative Rohstoffe oder die elektrische Beheizung der Apparate nachdenkt, an der prinzipiellen Notwendigkeit, Stoffe thermisch zu trennen ändert sich nichts.

Doch „thermisch“ bedeutet auch energieaufwändig: Etwa zehn Prozent der weltweit erzeugten Energie wird für Destillationsprozesse benötigt – daran ist nichts zu ändern. Oder doch? In Ulm sieht man das anders: Hier arbeitet ein Team von Forscherinnen und Forschern um Professor Thomas Grützner, vom Institut für Chemieingenieurwesen, an einer kleinen Revolution der Verfahrenstechnik: Einer multiplen Trennwandkolonne.

Der Traum von der Trennwand: Daran arbeitet die Branche seit Jahrzehnten

Wenn Mehrstoffgemische thermisch getrennt werden sollen, ist das in einem einzelnen Destillationsschritt (zumindest bei üblichen Destillationskolonnen) nicht möglich. Also werden typischerweise mehrere Kolonnen hintereinandergeschaltet, um in jedem Schritt einen weiteren Stoff aus dem Gemisch abzutrennen. Auch in Ulm geht es um Mehrstoffgemische, wie Prof. Grützner erklärt. Doch um bis zu vier Fraktionen zuverlässig voneinander zu trennen, benötigen die Entwickler nur eine einzige Anlage.

Fast zehn Meter hoch und damit für eine Technikumsanlage erstaunlich eindrucksvoll ist die multiple Trennwandkolonne im neuen Technikum der Universität Ulm. Und auch, wenn man von außen durch Gerüste und Thermomäntel die eigentliche Kolonne nur erahnen kann, ist die Apparatur eine kleine Revolution. Zum ersten Mal wurde hier eine Destillationsanlage mit mehreren Trennwänden verwirklicht, erklärt Grützner.

Dabei ist die Idee, den Innenraum einer Destillationskolonne mit einer Trennwand aufzuteilen und so eine weitere Fraktion im selben Schritt abtrennen zu können nicht neu: Erste Patente wurden bereits in den 1940er Jahren eingereicht und etwa ein Jahrzehnt später erste Anlagen erprobt. Dabei erwies sich, dass sich der apparative Mehraufwand dank der eingesparten zweiten Kolonne samt Peripherie mehr als rechnet, wie Grützner betont.

Auch sorgt die Thermodynamik dafür, dass die Trennwandkolonne weniger Energie verbraucht als im konkreten Fall drei separate Apparate. Die Auslegung dieser Anlagen ist jedoch genau wie die Instrumentierung und Betrieb eine hochkomplexe Aufgabe, so dass noch heute nur wenige Spezialisten oder Unternehmen mit großen Engineering-Abteilungen sich auch nur an einfache Trennwandkolonnen wagen.

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So soll die Vision einer multiplen Trennwandkolonne Wirklichkeit werden

Die Destillation ist ein Kernprozess der chemischen Industrie, der etwa zehn Prozent des globalen Energieverbrauchs ausmacht.
Die Destillation ist ein Kernprozess der chemischen Industrie, der etwa zehn Prozent des globalen Energieverbrauchs ausmacht.
(Bild: Eberhardt, kiz Universität Ulm)

Wenn sich aber ternärne Systeme so erfolgreich und effizient aufteilen lassen, warum sollte ein derartiges Vorgehen nicht auch für Vierstoffsysteme machbar sein? „Die Komplexität explodiert förmlich“, erklärt Grützner. „Deswegen wurde eine derartige Anlage zwar oft diskutiert, aber nie gebaut.“ Mehrere Trennwände in einer Anlage: Diese Idee hatte Grützner bereits, als er noch in der Forschung eines Chemieunternehmens aktiv war. „Nach meinem Wechsel an die Universität Ulm habe ich sofort mit der Entwicklung der neuartigen Destillationsanlage begonnen“, erinnert sich der Chemieingenieur. Doch neben Planung und Bau des neuen Technikums war die Auslegung der Kolonne eine Herkulesaufgabe, die nur nach jahrelanger Modellierung und Simulation gelöst werden konnte.

2021 war es so weit: Zum ersten Mal wurde die etwa 600.000 Euro teure Anlage, gebaut beim Destillationsspezialisten Iludest in Waldbüttelbrunn bei Würzburg, im September angefahren. In einer explosionsgeschützten Umgebung aufgebaut, ist die Anlage mit einer Heizleistung von 10 kW mit über 70 Sensoren bestückt. Der Druck kann dabei für die Versuche bis zum Vakuum eingestellt werden – je nachdem welches Gemisch getrennt werden soll.

„Die Komplexität explodiert förmlich“, erklärt Grützner. „Deswegen wurde eine derartige Anlage zwar oft diskutiert, aber nie gebaut.“
„Die Komplexität explodiert förmlich“, erklärt Grützner. „Deswegen wurde eine derartige Anlage zwar oft diskutiert, aber nie gebaut.“
(Bild: Eberhardt, kiz Universität Ulm)

„Die Anlage ist nicht in erster Linie dafür gedacht, konkrete Gemische in ihre hochreinen Bestandteile zu trennen, sondern soll uns helfen, den Prozess zu verstehen“, so Grützner. So muss etwa die Flüssigkeitszufuhr von oben genauso wie der von unten zuströmende Dampf auf die Trennwände aufgeteilt werden, wobei sich die sogenannten Splits gegenseitig beeinflussen. „Diese Zusammenhänge zu begreifen ist jetzt das Ziel der nächsten Jahre.“

Von der Simulation zur Destillation – Ein weiter Weg?

Ebenfalls auf der Agenda: die sogenannten mehrfach stationären Zustände, bei denen ein Gemisch sich bei mehreren Betriebspunkten stabilisiert. Dieses Verhalten ist in Theorie und Simulation vielfach beschrieben worden, verunsichert aber potenzielle Betreiber aus der Industrie. Würde sich der Prozess außerhalb des gewünschten Betriebspunktes stabilisieren, wäre eine spezifikationsgemäße Produktion gefährdet. Daher geht es nun auch darum, zu versuchen, diese Zustände in der echten Anlage nachzustellen – immerhin, gibt Grützner zu bedenken, könnte es sich auch lediglich um mathematische Artefakte handeln.

In jedem Fall geht es darum, die Kolonne zu verstehen und sicher zu beherrschen, verschiedene Reinheitsgrade zu erzielen und das Verhalten der realen Apparatur den Erwartungen aus der Simulation gegenüberzustellen: Wie kann eine derartige Anlage angefahren werden? Wie erreicht man die gewünschten Gleichgewichtszustände? Und wie soll die Regelung eines derartigen Verfahrens aussehen? Immerhin betreten die Ulmer völliges Neuland: „Wir haben die erste Anlage weltweit hier im Labor stehen und wir wollen mit unserer Forschung dazu beitragen, zu verstehen, wie diese Anlagen funktionieren, und den robusten Betrieb zu erkennen und zu gewährleisten“, erklärt der Destillationsexperte. „Unser Ziel ist, den Weg zu ebnen und Anwendern in der Industrie die Angst vor den komplexen Apparaten zu nehmen.“

Beim Anlagenbau bedienten sich die Entwickler allerdings eines kleinen Kniffes: Statt eines einzigen Kolonnenkörpers mit zwei Trennwänden nutzen die Ulmer drei parallele Stränge, die jeweils als eigener Glaskörper ausgeführt sind, aber über einen gemeinsamen Kondensator und Verdampfer verfügen. So lässt sich das Verhalten einer dreigeteilten Trennwandkolonne auch bei kleinen Durchmessern nachstellen, ohne auf den Wärmeübergang durch die Wand Rücksicht nehmen zu müssen. Dieser Effekt, der bei größeren Anlagendurchmessern zunehmend in den Hintergrund gerät, ist auch dafür verantwortlich, dass Iludest die einzelnen Stränge in einen beheizbaren Mantel gehüllt hat.

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Bis zu 50 Prozent weniger Energie-Einsatz: Der Gipfel der Thermodynamik

Der Destillation ist es egal, ob die einzelnen Stränge als Glasröhren oder per Trennwand separierte Bereiche ausgeführt sind, weiß Grützner. Dadurch aber, dass sich auf diese Weise Prozesse nahezu ohne Rückvermischung ausführen lassen, ist der apparative Aufwand nicht nur viel geringer als bei drei in Folge geschalteten Kolonnen, sondern auch der Energieeinsatz um bis zu 50 Prozent reduziert – ein enormer Effekt, der auch industrielle Anwender überzeuge sollte, ist sich Grützner sicher. „Trennwandkolonnen arbeiten am thermodynamischen Optimum. Man kann nicht noch weniger Energie verbrauchen“, erklärt der Destillationsexperte. „Ein Stoffgemisch wird sich nicht von alleine trennen – Sie müssen also Energie zuführen. In der multiplen Trennwandkolonne realisieren wir genau das thermodynamisch nötige minimale Maß an Energie – Das ist ziemlich cool!“ Und ob: In der Praxis setzen lediglich die Wirkungsgrade oder Wärmeverluste etwa am Verdampfer dem Effizienzmonster Grenzen – man kommt dem minimalen Energieeinsatz also so nahe, wie technisch möglich.

Beim Anlagenbau bedienten sich die Entwickler allerdings eines kleinen Kniffes: Statt eines einzigen Kolonnenkörpers mit zwei Trennwänden nutzen die Ulmer drei parallele Stränge, die jeweils als eigener Glaskörper ausgeführt sind, aber über einen gemeinsamen Zulauf und Sumpf verfügen.
Beim Anlagenbau bedienten sich die Entwickler allerdings eines kleinen Kniffes: Statt eines einzigen Kolonnenkörpers mit zwei Trennwänden nutzen die Ulmer drei parallele Stränge, die jeweils als eigener Glaskörper ausgeführt sind, aber über einen gemeinsamen Zulauf und Sumpf verfügen.
(Bild: Eberhardt, kiz Universität Ulm)

Dabei gelang es dem Team, das Anfahren der Kolonne, also den Prozess aus Beschicken und Aufheizen bis zum Erreichen des stabilen Betriebszustands auf wenige Stunden zu senken – eine Tatsache, die gerade Versuche im Uni-Alltag ohne den Rund-um-die-Uhr-Schichtbetrieb eines großen Chemiekonzerns erheblich vereinfacht. Auch hier war die Lösung bestechend einfach, so Grützner: durch die Vorlage des Schwersieders im Kollonensumpf stellt sich der gewünschte stationäre Betriebszustand schnell ein.

Damit ist sich Grützner sicher, stünden der Trennwandkolonne nahezu alle Türen offen – lediglich hinsichtlich azeotroper Gemische will sich der Ulmer Forscher nicht festlegen. Auch eine Destillation bei unterschiedlichen Druckniveaus – in der industriellen Praxis keinesfalls unüblich – funktioniert natürlich in einem einzigen Apparat nicht. „Wenn die Multiple Trennwandkolonne Anwendung in der Industrie findet, trägt unsere Forschung massiv zum Klimaschutz bei“, erklärt der Ulmer Entwickler. „Auf chemische Trennprozesse, die einen relevanten Teil des globalen Energiebedarfs ausmachen, werden Unternehmen auch in Zukunft nicht verzichten können. Die Multiple Trennwandkolonne weist den Weg, wie dieser grundlegende Vorgang energieeffizienter werden kann." ●

* Kontakt zum Institut für Chemieingenieurwesen: thomas.gruetzner@uni-ulm.de

* Kontakt zu Iludest: info@iludest.de

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