Exklusive PROCESS-Umfrage 50-Prozent-Idee, F3 Factory und Small Scale Anlagen als Wundermittel der Zukunft?
Die Latte lag hoch: Um mehr als 50 Prozent sollte die Zeit von der Produktentwicklung bis zum Start und zur Markteinführung reduziert werden. Unter den Stichworten 50-Prozent-Idee, F3 Factory oder Small Scale-Anlagen wurde in den vergangenen Jahren die Entwicklung voran getrieben. Wie viele Ideen wurden in die Praxis umgesetzt, wo hapert die Umsetzung? PROCESS hat in einer exklusiven Anwenderumfrage nachgehakt.
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Nie von der 50-Prozent-Idee oder dem Forschungsprojekt F3 Factory gehört? Das ist schade, denn viele sehen darin einen Paradigmenwechsel bei der Planung und Entwicklung von Chemieanlagen. Allerdings stehen Sie damit nicht allein, wie eine exklusive PROCESS-Umfrage bei rund 100 Anwendern zeigte. Gut 70 Prozent, davon über die Hälfte in großen Konzernen der Chemie- und Pharmaindustrie beschäftigt, haben von dem Forschungsansatz F3 Factory noch nie gehört. Nachdem die Idee den Anwendern erklärt wurde, halten jedoch über 57 Prozent diesen Ansatz für vielversprechend.
Durchlaufzeit um 50 Prozent reduzieren
Was genau ist die Idee hinter F3 Factory oder ähnlichen Konzepten? Der Weg eines Verfahrens vom Labor in die Produktion ist mitunter mühsam. Nicht selten vergehen mehr als zehn Jahre, bis eine Anlage rund läuft und das gewünschte Produkt erzeugt. Für einige Bereiche in der Prozessindustrie, auf jeden Fall aber für die Spezial- und Feinchemie, ist diese Zeitspanne viel zu lang.
Heute werden schnelle Marktzugänge sowie eine hohe Flexibilität in der Entwicklung und Produktion bei gleichzeitig geringem Investitionsrisiko gefordert. Vor drei Jahren entstand auf einem Symposium eine radikale Idee – die Durchlaufzeiten solcher Projekte sollten um 50 Prozent reduziert werden.
Modularisierung schafft Möglichkeiten
Dafür sind kleine Anlagen nötig, die deutlich schneller und flexibler auf die Marktbedürfnisse eingehen können. Allerdings werden hierfür neue Technologien und Konzepte benötigt, da es mit einer einfachen Verkleinerung bisheriger Anlagen nicht getan ist. Es werden sowohl neue Planungsprozesse als auch innovative Reaktoren und neue Konzepte für die Automatisierungs- und Sicherheitstechnik benötigt. Ein paar Beispiele:
- Zwar gibt es verstärkt Bemühungen, bereits im Labormaßstab Verfahren kontinuierlich zu betreiben. Dies ist jedoch eher die Ausnahme, in der Regel wird eher ein Rotationsverdampfer statt einer Kolonne verwendet.
- Ein wesentlicher Teil des Planungsprozesses betrifft die Erstellung von R+I-Fließbildern. Die Wiederverwendung ist meist nur selten möglich. Arbeiten am Lehrstuhl für Anlagen- und Prozesstechnik der TU Dortmund zeigen indes, dass bereits in der Planung das Modularisierungsprinzip konsequent genutzt werden kann. Mithilfe eines Entscheidungsbaums soll sich dann zum Beispiel ein PID-Modul ‚Pumpe‘ oder ‚Wärmetauscher‘ einfach integrieren lassen.
- Die Automatisierungstechnik muss vollkommen neu überdacht werden
Sprung in die Praxis
Derzeit werden zwei EU-Projekte, F3 Factory und Copiride, mit großem Engagement voran getrieben: F3 Factory steht für Flexible, Fast, Future und ist ein Forschungs- und Entwicklungsverbund von 25 führenden Unternehmen und Wissenschaftsinstituten aus ganz Europa. Hierbei sollen die Vorteile kontinuierlich betriebener Großanlagen mit der Flexibilität absatzweise betriebener kleinerer Anlagen kombiniert werden.
Praktisch erprobt wird dies im kürzlich eröffneten Forschungszentrum Invite im Chemiepark Leverkusen. Das Interesse ist breit gestreut, so arbeiten von Procter&Gamble über Bayer, BASF und Evonik auch Arkema, Astra Zenca oder Rhodia am F3-Factory-Projekt mit.
Copiride verfolgt u.a. den Ansatz, eine multifunktionale und universell einsetzbare Anlagenplattform zu entwickeln. In kompaktem Format, z.B. einem Container, werden multiple Anlagen/Reaktoren zusammengefasst, sodass sie für verschiedene Vorgänge oder Prozesse flexibel einsetzbar sind.
Chemiefabrik im Container
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Standardisierung und Weiterentwicklung von mikrostrukturierten Reaktoren für die Massenproduktion. Was sich für viele nach Zukunftsmusik anhört, wurde beim Spezialchemikalienhersteller Evonik bereits umgesetzt. Der nur drei mal zwölf Meter große Prozesscontainer „Evotrainer“ enthält alles, was für die Produktion benötigt wird – Reaktoren, Prozessleittechnik, IT-Module, Lagerfläche für die Einsatzstoffe, Elemente für konstruktiven Brandschutz, Fluchttüren und Auffangwannen nach dem Wasserhaushaltsgesetz.
Genutzt wurde die Minifabrik u.a. zur Entwicklung einer Elektronikchemikalie. In diesem Bereich ist es üblich, dass die Auftragsvergabe an ein Musterprodukt gekoppelt ist. Die Entwicklung der Chemikalie erfolgte daher parallel zur Prozessentwicklung im Container. Das Unternehmen sparte so wertvolle Entwicklungszeit und konnte fast zwei Jahre früher mit dem Produkt an den Markt.
Zusammenarbeit mit Universitäten
„Wir brauchen kostengünstiges, robustes und modular einzusetzendes Equipment für Pilotanlagen, hier besteht Handlungsbedarf der Equipmenthersteller zusammen mit der Anwenderindustrie“, bemerkt Dr. Frank Stenger, der im Bereich Verfahrenstechnik & Engineering die Gruppe ‚Small Scale Processes‘ leitet, anlässlich eines Dechema-Kolloquiums zum Thema Mitte März.
Ein weiteres Fazit aus den Erfahrungen ist, dass die Flexibilität auch ihren Preis hat. „Der Bauraum ist kostbar, und ohne eigenes Konzept werden die flexiblen Multi-Purpose-Anlagen nicht funktionieren“, so Stenger.
Dennoch geht die Entwicklung weiter: Evonik arbeitet derzeit u.a. in Kooperation mit den Universitäten Stuttgart und Eindhoven sowie dem Institut für Mikrotechnik (IMM) in Mainz im Rahmen des Projekts an einem Container der dritten Generation. Das Besondere daran: Die Infrastruktur soll universell einsetzbar sein. Die Versorgung mit Wasser, Prozessgasen, Strom, Wärme und Datenleitungen wird so konzipiert, dass theoretisch jede mögliche chemische Reaktion darin stattfinden kann.
Reaktionen im Miniformat
Auch bei der Verfahrenstechnik gibt es noch Verbesserungspotenzial: Auch gibt es bereits Hersteller, die für derartige Aufgaben Module bereitstellen. Beispiele dafür sind das modulare Miniplantsystem von Micro Innova aus Graz oder etwa das von Ehrfeld Mikrotechnik BTS angebotene Lonza FlowPlate Mikroreaktoren, die auf gestapelten Platten in einem Gestell wie bei einem Plattenwärmetauscher basieren und auf der diesjährigen Achema vorgestellt werden. Dennoch wünschen sich alle Beteiligten deutlich mehr Ideen zu dem Thema.
Ausblick
Interessant werden solche Ansätze vor allem für die Feinchemie oder Pharmazie, die eine Jahresproduktion von wenigen Tonnen aufweisen, gleichzeitig aber sehr agil am Markt auftreten müssen. Für eine nachhaltige Realisierung darf mit dem Umdenken in der Verfahrenstechnik daher nicht aufgehört werde. Dies beinhaltet, dass man keine 100-Prozent-Lösung erwarten darf.
Die größte Herausforderung für die stets nach dem Optimum strebenden Ingenieure liegt vielleicht in dem, was Prof. Dr.-Ing. Gerhard Schembecker von der TU Dortmund zum Abschluss der Veranstaltung mit auf den Weg gab. „Wenn man modularisieren möchte, muss man sich selbst beschränken.“ ●
Mehr Informationen zum Thema "Modulare Anlagenkonzeption und Automatisierung" lesen Sie im PROCESS-Artikel "Konzepte von morgen – Optimismus vs. Skepsis"
* Die Autorin ist freie Mitarbeiterin bei PROCESS. (E-Mail-Kontakt: redaktion@process.de)
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